Tagungsbericht
Am 4. April 2025 hieß Prof. Christian Picker (Universität Tübingen) Arbeitsrechtlerinnen und Arbeitsrechtler aus Wissenschaft und Praxis zum 19. Tübinger Arbeitsrechtstag im Audimax der Neuen Aula willkommen. Mit etwa 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern war die Tagung auch in diesem Jahr wieder gut besucht.
Das Leitthema des diesjährigen Arbeitsrechtstags lautete „Arbeitsrecht in der Krise“. In diesem Rahmen referierten Expertinnen und Experten aus Theorie und Praxis des Arbeitsrechts über die globale Krise liberaler Demokratien angesichts erstarkender autoritärer Tendenzen und diskutierten, welche Handlungsoptionen den Sozialpartnern offenstehen, um auch künftig „gute Arbeit“ in Deutschland zu gewährleisten.
Eröffnet wurde der 19. Tübinger Arbeitsrechtstag durch den Festvortrag der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, Inken Gallner, zum Thema „Arbeitsrecht in Zeiten der Krise der liberalen Demokratie“. Gallner beleuchtete das Verhältnis von Recht und Demokratie in krisenhaften Zeiten, die Rolle europäischer Gerichte und die Funktion Europas als Friedens- und Verteidigungsprojekt. Sie begann mit einem Rückblick auf die erfolgreichen Verfassungsbeschwerden gegen zwei Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, in denen die Tarifautonomie bei tariflichen Nachtzuschlägen nicht hinreichend berücksichtigt worden war. Im weiteren Verlauf des Vortrags betonte sie zentrale Merkmale der liberalen Demokratie wie Meinungsfreiheit, -vielfalt und Toleranz. Nach einem Überblick über aktuelle kriegerische Auseinandersetzungen (u. a. in der Ukraine, im Libanon, im Sudan und im Jemen) sowie globale Krisen (etwa Klimawandel, steigende Lebenshaltungskosten, Rezession), erläuterte sie die Rolle der Sozialpartnerschaft im Arbeitsrecht als Ausgleichsmechanismus widerstreitender Interessen von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite.
In der Analyse der politischen Rahmenbedingungen der Krise bezog Gallner sich auf das Superwahljahr 2024 und die bisherigen Entwicklungen im Wahljahr 2025, um die internationale Diskursverschiebung zu veranschaulichen. Abschließend skizzierte sie geopolitische Umwälzungen durch tektonische Verschiebungen zwischen den USA, China, Russland, Europa und Indien – und appellierte eindringlich an den europäischen Zusammenhalt sowie an die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der freien Welt.
Im Anschluss referierte Prof. Clemens Höpfner (Universität zu Köln) zu dem Thema „Die Tarifschlichtung – Ein Instrument zur Förderung von Tarifverhandlungen“. Nach einem Überblick über internationale und nationale Streikausfalltage verwies er auf die hohe Konfliktintensität der letzten Jahre, die u. a. auf den Versuch der Gewerkschaften zurückzuführen sei, Reallohnverluste aus den Jahren 2020 bis 2023 auszugleichen. Ein weiteres Phänomen sei das „Organisieren am Konflikt“, also die Mitgliedergewinnung durch Arbeitskampf.
Sodann stellte Höpfner die Rechtsprechungsentwicklung des 1. Senats des BAG hin zu einer faktischen Abschaffung des Ultima-ratio Prinzips von Arbeitskämpfen dar.
Anschließend beleuchtete er Schlichtungsvereinbarungen und erläuterte deren hohe Erfolgsquote. Diese sei darauf zurückzuführen, dass Schlichter rationalisierend und deeskalierend auf Tarifkonflikte einwirkten. Dabei sei insbesondere der „richtige Zeitpunkt“ für eine erfolgreiche Schlichtung entscheidend – ein Umstand, der jeweils vom konkreten Tarifkonflikt abhänge. Im weiteren Verlauf thematisierte er die gesetzliche Schlichtung. Er kritisierte die in Deutschland vorherrschende Rechtszersplitterung und die zunehmende Entkoppelung der Schlichtung vom Ultima-ratio-Prinzip.
Als Lösungsvorschlag präsentierte Höpfner sodann den gemeinsam mit Prof. Richard Giesen (Ludwigs-Maximilians-Universität München) erarbeiteten Entwurf eines Gesetzes zur Schlichtung von Tarifkonflikten. Dieses solle subsidiär zur Anwendung kommen, wenn die Tarifparteien nicht selbständig Kompromisse fänden und selbst keine abweichende Schlichtungsvereinbarung getroffen hätten. Abschließend betonte Höpfner, dass das Potenzial der Tarifschlichtung bislang nicht ausgeschöpft sei. Die Entkoppelung der Schlichtung vom Ultima-ratio-Prinzip führe zu „unnötigen“ Arbeitskämpfen mit erheblichen volkswirtschaftlichen Schäden. Ein Schlichtungsgesetz könne Tarifverträge fördern, die Tarifautonomie stärken und Bürger sowie Unternehmen vor unnötigen Schäden schützen.
Nach der Mittagspause war der zweite Teil der Tagung ganz der Betriebsverfassung gewidmet.
Den Auftakt machte Prof. Hermann Reichold (Universität Tübingen), der zugleich Begründer des Tübinger Arbeitsrechtstages ist. Sein Vortrag widmete sich dem Thema „Perspektiven eines BetrVG 2025 – braucht es eine Reform?“.
Dafür zeichnete er die historische Entwicklung des Betriebsverfassungsrechts nach: Auf Grundlage der Vorarbeiten Hugo Sinzheimers und des sog. Räteartikels der Weimarer Reichsverfassung (Art. 165 WRV) seien Betriebsräte flächendeckend bereits durch das Betriebsrätegesetz von 1920 geschaffen worden. Jedoch sei erst nach 1945 die dogmatische Kehrtwende von einer öffentlich-rechtlich zu einer privatrechtlich verfassten Betriebsverfassung erfolgt. Allerdings sei auch die gesetzliche Ausgestaltung des BetrVG 1952 an entscheidenden Stellen noch unvollständig gewesen, weshalb es weiterer Klärung durch den Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts bedurfte. Eine weitere Ausweitung der Betriebsratsbefugnisse sei dann durch das BetrVG 1972 erfolgt.
In jüngerer Zeit sei die Diskussion um eine Reform des Betriebsverfassungsgesetzes durch den DGB-Entwurf (AuR Sonderheft April 2022) neu aufgekommen, wenngleich der Entwurf von Politik und Rechtswissenschaft kaum aufgegriffen worden sei. Nachdem Reichold die wesentlichen Reformvorschläge detailliert erläutert hatte, konstatierte er, dass die Reform wohl nicht umgesetzt werde. Kritisch merkte er an, dass der DGB-Entwurf die Rolle des Betriebsrats als „Vertragshelfer“ des Arbeitnehmers verkenne. Auch biete der Vorschlag keine Antwort auf das brennende Problem der schwindenden Verbreitung der betrieblichen Mitbestimmung in den Betrieben. Zudem steigerten die als „übergriffig“ empfundenen Befugnisse des Betriebsrats nicht die Akzeptanz auf Arbeitgeberseite. Alternativ schlägt Reichold vor, die bestehenden Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats effektiver zu nutzen. Beispielhaft verwies er auf gemeinsame Aktionen im Bereich des betrieblichen Umweltschutzes (§ 89 BetrVG) oder in sozialen Angelegenheiten (§ 87 Abs. 1 BetrVG).
Dem Vortrag schloss sich eine intensive und kontroverse Diskussion über die Funktion der Betriebsautonomie und ihr Verhältnis zur wirtschaftlichen Freiheit des Arbeitgebers sowie der Tarifautonomie an. Auch berichtete Prof. Wolfgang Däubler, als einer der Mit-Initiatoren des DGB-Entwurfs, aus den Reformverhandlungen des DGB.
Als nächstes folgte der Co-Vortrag von Bettina Haller (ehem. Konzernbetriebsratsvorsitzende und Aufsichtsrätin der Siemens AG) und Prof. Rainer Sieg (Universität Passau) zu dem Thema „Faire Behandlung von Betriebsräten“.
Im ersten Teil ihres Vortrages stand die Vergütung freigestellter Betriebsräte im Mittelpunkt. Sieg erläuterte dabei den normativen Rahmen der Betriebsratsvergütung in § 37 Abs. 1 und 4 sowie § 78 S. 2 BetrVG sowie die gesetzgeberische Reform aus dem vergangenen Jahr. Er begrüßte die gesetzliche Übernahme der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in § 37 Abs. 4 BetrVG, die nicht zuletzt zu mehr Rechtssicherheit für die Betroffenen geführt habe. Frau Haller kritisierte hingegen, dass die Reform materiell keinen Vorteil für die Betriebsräte mit sich gebracht hätte und sah insbesondere bei der fehlenden Erzwingbarkeit der Betriebsvereinbarung nach § 37 Abs. 4 S. 4 BetrVG weiteren Handlungsbedarf. Außerdem schütze das Gesetz noch nicht hinreichend vor verdeckten Benachteiligungen, etwa bei der Leistungsbeurteilung nicht freigestellter Betriebsräte.
Die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ (§ 2 Abs. 1 BetrVG) war anschließend Gegenstand des zweiten Teils des Vortrags. Haller und Sieg gaben dabei interessante Einblicke in die Konfliktbeilegung und Kommunikationskultur der Siemens AG.
Den feierlichen Abschluss des Arbeitsrechtstages bildete die Laudatio, die Prof. Elisabeth Hartmeyer, Dr. Sebastian Pfrang und Dr. Pascal M. Ludwig auf ihren Doktorvater Prof. Hermann Reichold hielten. Als vorgezogene Würdigung zu seinem 70. Geburtstag überreichten sie ihm feierlich ein Exemplar seiner Festschrift.
Zuletzt bedankte sich Prof. Picker bei den Referentinnen und Referenten für die spannenden Vorträge, beim Publikum für die zahlreichen, wertvollen Diskussionsbeiträge sowie bei den Sponsoren und seinem „Lehrstuhl-Team“ für die großartige Unterstützung.
Auch kündigte er an, dass es zum kommenden 20. Jubiläum des Tübinger Arbeitsrechtstags im Jahre 2026 wieder die Möglichkeit zum Austausch zwischen arbeitsrechtlicher Wissenschaft und Praxis geben wird.
Insgesamt bot der 19. Tübinger Arbeitsrechtstag einen wertvollen Diskurs über aktuelle rechtspolitische Entwicklungen sowie Einblicke in eine gelungene Zusammenarbeit von Betriebsrat und Arbeitgeber.
Text: Alena Missler u. Leon Gruidl
Bilder: Laura Anger