Warum Kirchengeschichte?
Nicht etwa, weil Jahreszahlen, endlos erscheinende Ereignisketten und die Taten vermeintlich Großer (Männer zumeist...) ihren Sinn schon in sich selbst trügen!
Ziel des Studiums
Ziel des Studiums der Kirchengeschichte ist es, Denken in Geschichte als Grundkategorie christlicher und theologischer Identitätsbildung zu vermitteln.
Indem wir uns mit den Menschen befassen, die vor uns Christen gewesen sind, den Prominenten wie den Marginalen, sprechen wir - mittelbar - von Gott. Wir sprechen von dem Gott, wie er geglaubt, geliebt, gefürchtet, erlitten und zurückgewiesen wurde. Zu dieser Geschichte des "geglaubten Gottes" gehört unmittelbar, dass dieser Glaube eine soziale Gestalt angenommen hat: In Kirchen mit allen ihren institutionellen Verästelungen, Hierarchien, Gemeinden und Gruppen, aber auch über die Kirchen im engeren Sinne hinaus in ganzen Gesellschaften, ihren politischen Konzepten und ihren Selbstverständnissen, in Ritualen und Bauten, Texten und Bildern, in Macht und Geld, in Krieg und Gewalt, kurz: in der ganzen Ambivalenz alltäglich gelebten Lebens. Die Geschichte des "geglaubten Gottes" ist in diesem Sinne eine "totale" Geschichte. Nicht eine umfassende, anmaßend-unmögliche Rekonstruktion der vergangenen Wirklichkeit als Ganze ist gemeint, sondern eine Geschichte, die das politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben der Menschen in engster Beziehung zur deren christlicher Identität begreift. Insofern gibt es grundsätzlich kein Feld historischer ‚Wirklichkeit', das nicht zum Gegenstand einer solchen Geschichte werden könnte.
Die Geschichte des Christentums legt den Grund für das Verständnis der Entwicklung christlicher Lehre, Ethik und Praxis; sie spiegelt in der Geschichte der religiösen Gruppen und Individuen und der kirchlichen Institutionenbildungen, Sozialformen, Frömmigkeitshaltungen und Mentalitäten das historisch gelebte Verständnis von Bibel und Glauben wider. Daher ist nicht nur das Denken der Menschen von Interesse (Ideengeschichte), nicht nur die Kirche als Körperschaft mit mächtigen Repräsentanten (Institutionen- und Personengeschichte), sondern ebenso die politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen, die sich auf religiöses Verstehen und Leben auswirken; gleichzeitig wird im Blick behalten, wie Religion sich verändernd auf eben jene Faktoren gestaltend auswirkt. Demnach geht es um eine Wechselbeziehung zwischen Religion und Gesellschaft; die Tübinger Kirchengeschichte im Bereich MNKG versteht sich daher als eine "Gesellschaftsgeschichte des Christentums", die das Verhältnis zu den anderen gesellschaftlich und politisch bedeutsamen Religionen, besonders dem Judentum und dem Islam, nicht außer Acht lässt.
Das Fach Mittlere und Neuere Kirchengeschichte arbeitet vom Übergang zum frühen Mittelalter bis zur aktuellen Zeitgeschichte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Der weite Epochenumfang (frühes und hohes Mittelalter, Spätmittelalter und Reformationszeit, Frühe Neuzeit und Neuzeit, Zeitgeschichte) wird an zentralen Gelenkstellen und mit Blick auf lange Entwicklungsbögen behandelt.
Auf diese Weise fördert das Fach den Prozess christlicher Identitätsbildung und hält ihn offen und unabschließbar gegen Fundamentalismus, gegen triumphalistische Geschichts- und Selbstbilder und gegen die Absolutsetzung konfessioneller Identitäten.
Vgl.: A. Holzem, Die Geschichte des "geglaubten Gottes". Kirchengeschichte zwischen "Memoria" und "Historie", in: A. LEINHÄUPL-WILKE, M. STRIET (Hg.), Katholische Theologie studieren: Themenfelder und Disziplinen, Münster - Hamburg - London 2000, 73-103.
Homepage: Lehrstuhl Mittlere und Neuere Kirchengeschichte