Philosophische Fakultät

Nachrichtenarchiv

10.11.2015

„Bürgergesellschaft ohne Bürger. Wie zivil ist die russische Gesellschaft?“

Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde veranstaltete Podiumsgespräch mit Vertretern der Heinrich Böll Stiftung und der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL

Arsenij Roginski (r.) im Gespräch mit Prof Dr. Klaus Gestwa (l.). Foto: Andreas Baumer

In ihrem 2013 erschienenen Bericht zur Lage von Nicht-Regierungsorganisationen in Russland zeichnet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ein düsteres Bild von Willkür, Razzien und Geldstrafen. Diese Politik der »harten Hand« von Präsident Wladimir Putins wirft die Frage auf, wie es um die Bürgergesellschaft in Russland bestellt ist. Mit ihrer Podiumsdiskussion am 28. Oktober 2015 zum Thema „Bürgergesellschaft ohne Bürger. Wie zivil ist die russische Gesellschaft?“ sind die Heinrich Böll Stiftung und das Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen Antworten auf diese Frage nähergekommen. In den vollen Hörsaal waren dazu als Gäste eingeladen: Arsenij Roginskij, Vorstandsvorsitzender der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL und Jens Siegert, der langjährige Leiter des Moskauer Büro der Heinrich Böll Stiftung und bekannt für seinen „Russland Blog“, auf dem er Entwicklungen der russischen Gesellschaft und Tagespolitik analysiert.

Arsenji Roginskij machte gleich zu Beginn klar, wie prekär die aktuelle Lage für seine und andere Menschenrechtsorganisationen ist. In den letzten Jahren setzte eine neue Qualität an Repression ein, so der langjährige Menschenrechtler. Vor allem die juristische Verfolgung durch die russischen Behörden und deren Willkür seien Ausdruck dieses Kurswandels. Das 2013 erstmals erlassene und erst kürzlich verschärfte Gesetz über die „Ausländischen Agenten“ mache es insbesondere den kleineren Organisationen praktisch unmöglich, ihrer Tätigkeit nachzugehen. Organisationen, die beispielsweise von ausländischen Stiftungen mitfinanziert werden, können demnach wegen ihrer „politischen Aktivität“ zu „Auslandsagenten“ erklärt und juristisch verfolgt werden. Behördliche Willkür und hohe Geldstrafen drehen den Organisationen dann regelrecht den Geldhahn zu. Roginskij betonte, dass bereits viele kleinere Organisationen aufgrund der neuen Gesetzgebung ihre Arbeit aufgeben mussten und stellte überdies klar, dass auch große Organisationen wie MEMORIAL von der neuen Agenda ernsthaft bedroht sind. Vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse auf der Krim und in der Ukraine sieht Roginskij kaum die Möglichkeit eines schnellen Kurswechsels der Putinregierung, mahnte aber alle Akteure zur Besonnenheit.

Übereinstimmend mit Roginskij verdeutlichte Jens Siegert in seinen Ausführungen, wie komplex das Thema „Zivilgesellschaft“ in Russland tatsächlich ist. Der Russlandexperte zeigte ein vielschichtiges Bild einer Bürgergesellschaft auf, in der Unmut und stilles Anpassen allzu oft einhergingen. Die juristische Verfolgung und Drangsalierung derjenigen, die man als „Agenten“ praktisch brandmarkt, sind für Siegert Ausdruck einer großen Sehnsucht nach einst geklärten Verhältnissen von Freund und Feind und dem Wunsch nach Ordnung und Stabilität (vor allem vor dem Hintergrund der traumatischen Erfahrungen der 1990er Jahre). Dennoch wäre es falsch, ein einäugiges Bild eines (ungeschriebenen) russischen Gesellschaftsvertrags zu beschreiben, der Stabilität zum Preis von Stillschweigen vorsieht. Die nunmehr seit knapp zehn Jahren anhaltende Wirtschaftskrise werde auf Dauer nicht von derartigen nationalistischen Chauvinismen überstrahlt werden können. Die nationalistischen Töne Putins seien vor allem durch Entwicklungen in der Außenpolitik bedingt. Siegert und Roginskij warnten daher abschließend davor, den Westen und dessen Politik aus einer Diskussion über die innenpolitischen (Fehl-)Entwicklungen Russlands außen vor zu lassen. Dabei verwiesen beide vor allem auf die Verwerfungen Russlands mit dem Westen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Sie ermöglichten es Putin, national-chauvinistische Narrative zu entwerfen, die sein hartes Vorgehen rechtfertigen und die Menschen zur Opferbereitschaft aufrufen – um das vermeintlich von Feinden umgebene Heimatland zu alter Glorie zurückzuführen. Wie lange die Putin‘sche Formel des „Wenn es mit dem Wohlstand schon nicht klappt, dann wollen wir wenigstens wieder stolz sein können auf unser Land“ allerdings noch Machtgarant bleibt, bleibe abzuwarten.

Thorsten Zachary

Verweise:

<link http: www.uni-tuebingen.de fakultaeten philosophische-fakultaet fachbereiche geschichtswissenschaft seminareinstitute osteuropaeische-geschichte startseite.html external-link-new-window external link in new>Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde
<link http: www.boell-bw.de external-link-new-window external link in new>Heinrich Böll Stiftung Baden Württemberg
<link https: www.memorial.de external-link-new-window external link in new>MEMORIAL Deutschland e. V.
<link http: russland.boellblog.org external-link-new-window external link in new>Russland Blog

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