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27.04.2022
Zwei ERC Advanced Grants für Forscher der Philosophischen Fakultät
Linguist Harald Baayen untersucht Diskrepanzen zwischen geschriebener und gesprochener Sprache – Philosophie-Professor Klaus Corcilius erarbeitet neue Gesamtinterpretation von Aristotelesʼ „Philosophie des Geistes“
Gleich zwei Wissenschaftler der Universität Tübingen haben erfolgreich einen Advanced Grant des European Research Council (ERC) eingeworben. Harald Baayen, Professor für Quantitative Linguistik, nimmt im Projekt „Subliminal learning in the Mandarin lexicon“ (SUBLIMINAL) in den Blick, dass Schriftsysteme nie komplett die gesprochene Sprache abbilden, und will so den Erwerb von Zweitsprachen verbessern. Im Projekt „Text and Idea of Aristotle's Science of Living Things“ (TIDA) von Professor Klaus Corcilius, Lehrstuhl für antike Philosophie, arbeiten Philosophen und Philologen an einer neuen Gesamtinterpretation von Aristoteles' „Philosophie des Geistes“. Beide Projekte erhalten ab Herbst eine finanzielle Förderung in Höhe von je ca. 2,5 Millionen Euro für insgesamt fünf Jahre.
Linguistik will Vokabellernen vereinfachen
Im Mittelpunkt von Harald Baayens Forschungsprojekt "Subliminal learning in the Mandarin lexicon" (SUBLIMINAL) steht die Beobachtung, dass es in der gesprochenen Sprache subtile Regelmäßigkeiten gibt, die sich unserem Bewusstsein entziehen, die aber eine wichtige Rolle beim Spracherwerb und Sprachgebrauch spielen.
Philosophen wie Immanuel Kant, Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty sowie der Kognitionswissenschaftler Donald Hoffman gehen davon aus, dass unsere Wahrnehmung der Realität durch unseren Geist und Körper geformt und gefiltert wird. Nach Baayens
Auffassung gilt dies auch für unsere Sprachwahrnehmung, die durch unsere Schriftsysteme gefiltert wird. Abweichungen zwischen Schreibkonventionen und gesprochener Alltagssprache sind für Muttersprachler in der Regel unproblematisch. So kommen englische Muttersprachler beispielsweise damit zurecht, wenn in einer Konversation das Wort „probably“ (deutsch: „wahrscheinlich“) als „prolly“ ausgesprochen wird. Beim Erlernen einer neuen Sprache jedoch könnten solche Diskrepanzen den Zweitspracherwerb unnötig erschweren, so Baayen.
Sein Forschungsprojekt befasst sich mit dem Erlernen von Mandarin-Chinesisch, einer Sprache, in der unterschiedliche Wörter aus denselben Klängen bestehen können, aber je nach Bedeutung in verschiedenen Tonmelodien ausgesprochen werden. Baayen wird im Detail untersuchen, wie Mandarin-Sprecher Wörter tatsächlich aussprechen, mit Fokus darauf, wie sie Tonmelodien einsetzen. Er wird zudem erforschen, wie das einzigartige Schriftsystem des Chinesischen mehrere Bedeutungsebenen erzeugt. Mit Hilfe modernster Methoden der Computermodellierung, der Verteilungssemantik und der statistischen Analyse, wird er untersuchen, wie Form und Bedeutung zusammenpassen, und die Ergebnisse nutzen, um die Methoden des Vokabellernens für Mandarin-Chinesisch als Zweitsprache zu verbessern.
Rolf Harald Baayen hat an der Freien Universität Amsterdam „General Linguistics“ studiert. Nach einer Professur für Quantitative Linguistik an der Radboud-Universität in Nijmegen hatte er ab 2007 an der Universität von Alberta im kanadischen Edmonton eine Professur inne. 2011 kam er im Rahmen einer Humboldt-Professur an die Universität Tübingen. Er gilt als einer der innovativsten Forscher auf dem Gebiet der Wortschatzforschung und der quantitativen Linguistik. Als Pionier der computergestützten und empirischen Sprachforschung und Psycholinguistik hat er grundlegende Beiträge etwa zum Verständnis der menschlichen Sprachfähigkeit und zur Rolle des Gedächtnisses bei der Sprachverarbeitung geleistet.
Kontakt:
Prof. Dr. Harald Baayen
Seminar für Sprachwissenschaft
harald.baayenspam prevention@uni-tuebingen.de
https://www.sfs.uni-tuebingen.de/~hbaayen/
Neuinterpretation von Aristotelesʼ Werk De Anima
Ziel des Forschungsprojekts „Text and Idea of Aristotle's Science of Living Things“ (TIDA) von Professor Klaus Corcilius ist eine neue Gesamtinterpretation von Aristoteles' „Philosophie des Geistes“. Dabei soll mit dem Interpretationsansatz gebrochen werden, der die Forschung zu den so genannten „psychologischen“ Schriften des Aristoteles und insbesondere zu seinem berühmten Traktat „Über die Seele“ (De Anima) in den letzten Jahrzenten dominiert hat: Die Schrift De Anima stehe für Aristotelesʼ "Philosophie des Geistes" als Ganzes.
Entgegen diesem Trend will TIDA zeigen, dass es in De Anima nicht um die „Philosophie des Geistes“ als solche geht und dieser Ansatz der Denkweise des Aristoteles tatsächlich fremd wäre; vielmehr geht es in De Anima grundsätzlich um die Definition des ersten Prinzips einer viel umfassenderen Wissenschaft vom Lebendigen (Menschen, Tiere und Gewächse). Klaus Corcilius und sein Team wollen aufzeigen, wie De Anima und andere Schriften bei der wissenschaftlichen Erklärung lebendiger Dinge zusammenwirken, und vor allem erläutern, was die Wissenschaftstheorie des Lebendigen zu den grundsätzlichen Fragen der „Philosophie des Geistes“ beitragen kann.
TIDA will mit philosophisch-philologischen Methoden aufzeigen, wie Aristoteles die Fragen und Probleme der Philosophie des Geistes aus einer biologischen Perspektive versteht. Zwei Ziele werden dabei verfolgt: Aristoteles' Abhandlung über die Seele De Anima und verwandte Abhandlungen sollen einer neuen und umfassenden philosophischen Interpretation unterzogen werden. Gleichzeitig wird der griechische Originaltext in einer Weise zugänglich gemacht, die den Standards der modernen Textkritik entspricht.
TIDA wird eine kritische Ausgabe von De Anima in gedruckter und digitaler Form herausgeben. Diese gibt es bislang nicht. Da die Textfassung entscheidend von der philosophischen Bewertung alternativer Handschriftenlesarten abhängt, ist dafür eine sehr enge Zusammenarbeit von Textkritikern und Philosophen wichtig. Am Ende des Projektes sollen verbesserte Originaltexte und eine neue und informativere philosophische Perspektive auf Aristotelesʼ Philosophie des Geistes vorliegen. Das interdisziplinäre Forschungsteam soll für die zukünftige philosophische und philologische Arbeit zu Aristotelesʼ „Wissenschaft vom Lebendigen“ eine neue und dauerhafte Grundlage schaffen.
Klaus Corcilius studierte Philosophie und Griechische Philologie an den Universitäten in Hamburg und Dublin. Nach seiner Promotion an der Humboldt-Universität Berlin arbeitete er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter und übernahm 2008 eine Vertretungsprofessur an der Concordia University Montreal, Kanada. Von 2009 bis 2011 war Corcilius Juniorprofessor für antike Philosophie an der Universität Hamburg, danach arbeitete er fünf Jahre als Associate Professor für Philosophie an der University of California in Berkeley. 2016 wurde er auf die Professur für Antike Philosophie an der Universität Tübingen berufen.
Kontakt:
Prof. Dr. Klaus Corcilius
Philosophisches Seminar
klaus.corciliusspam prevention@uni-tuebingen.de