Uni-Tübingen

Aktuelle Informationen

04.02.2016

„Moment, hier war ich doch schon!“ – Wie das Gehirn Ortserinnerungen bildet

Tübinger Forscher aktivieren im Experiment vormals ruhende Gedächtniszellen

Körnerzellen im Gyrus dentatus einer Ratte, durch Fluoreszenzmikroskopie sichtbar gemacht (in Cyanblau). Abbildung: (c) Burgalossi Lab

Tübinger Neurowissenschaftlern ist es gelungen, ruhende Gedächtniszellen von Ratten zu aktivieren. Durch gezielte schwachelektrische Impulse konnten sie vormals inaktive Zellen im Hippocampus dazu bringen, den Ort der Impulsverabreichung wiederzuerkennen. Der Hippocampus ist bei Nagetieren wie auch dem Menschen für das Gedächtnis zuständig. Die Studie des Forscherteams am Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der Universität Tübingen gibt daher Hinweise darauf, wie in unserem Gehirn Erinnerungen gebildet werden. Die Ergebnisse wurden nun im Fachmagazin Current Biology veröffentlicht.

Das Gedächtnis ist eine der wichtigsten Funktionen unseres Gehirns. Mit seiner Hilfe können wir nicht nur unseren Enkelkindern eines Tages allerlei Unterhaltsames aus unserer Jugend erzählen. Gerade für ganz alltägliche Abläufe ist es unverzichtbar. Es ist ständig und sofort aktiv, wenn wir etwas erleben: Wenn wir jemanden kennenlernen, erkennen wir sie oder ihn auch nach Stunden oder Tagen wieder. Und auch wer zum ersten Mal die Parfümabteilung, das Personalbüro oder die Toilette in einem fremden Gebäude aufsucht, findet den Ausgang gewöhnlich ohne Schwierigkeiten wieder.

Das Gedächtnis „denkt“ also nicht nur ständig „mit“, es bildet neue Erinnerungen auch besonders schnell, meist schon bei der ersten Interaktion. Das liegt daran, dass für jede Person, für jeden Ort und wohl auch für viele andere Konzepte bestimmte Gedächtniszellen direkt zuständig sind. Ein Typ dieser Neuronen, die Körnerzellen, sitzt im Hippocampus, einer zentralen Hirnregion. Wenn Gedächtniskonzepte wie „mein Wohnzimmer“ oder „Angela Merkel“ aktiviert werden – zum Beispiel durch das Betreten des Wohnzimmers oder das Betrachten einer Fotografie der Bundeskanzlerin – reagiert eine kleine Anzahl zuständiger Körnerzellen mit elektrischen Impulsen. Die weit überwiegende Mehrzahl der Körnerzellen bleibt dagegen untätig.

Bisher war unklar, durch welchen Mechanismus einzelne Gedächtniszellen einer bestimmten Erinnerung zugewiesen werden – zumal die allermeisten Körnerzellen normalerweise ruhen und keine Funktion zu haben scheinen. Das Tübinger Forscherteam unter Leitung von Dr. Andrea Burgalossi ging nun der Frage nach, ob ruhende Körnerzellen unter bestimmten Umständen „aufgeweckt“ werden können. Ihre Vermutung: Körnerzellen können durch elektrische Impulse zu aktiven Gedächtniszellen werden. Um die Hypothese zu überprüfen, legten sie haarfeine Mikroelektroden in den Gyrus dentatus – einen Bereich im Hippocampus, der das Ortsgedächtnis enthält – von Ratten, durch die sie schwache elektrische Impulse in einzelne Körnerzellen senden konnten.

Die Ratten liefen frei durch ein einfaches Labyrinth. An einem bestimmten Ort innerhalb des Labyrinths wurden einzelne Körnerzellen per Mikroelektrode mit schwachen elektrischen Impulsen (im Nanoamperebereich) angeregt. Mithilfe derselben Elektrode maßen die Forscher anschließend die Aktivität der behandelten Körnerzellen. Das Ergebnis: Kamen die Ratten erneut an den Ort im Labyrinth, wo der Impuls zuvor verabreicht worden war, feuerten die stimulierten Körnerzellen nun von sich aus. Der Impuls hatte den Gyrus dentatus angeregt, in den betroffenen Körnerzellen eine Erinnerung an den Ort zu bilden.

Burgalossi und seine Forschergruppe fanden zudem heraus, dass Dauer und Art der verabreichten Impulse eine große Rolle spielen. Sie führten zu einer stabileren Ortserinnerung, wenn sie in Übereinstimmung mit der natürlichen Thetaschwingung des Gehirns erfolgten, einem Auf- und Abbau elektrischen Potenzials, der etwa vier- bis zwölfmal in der Sekunde stattfindet. Ebenso bedeutsam könnte ein anderer Befund sein: Ratten, die den Impuls beim ersten Betreten des Labyrinths erhielten, reagierten deutlich stärker auf die induzierte Ortserinnerung als Ratten, die sich im Labyrinth vorher bereits auskannten. Offenbar werden Gedächtniszellen leichter aktiviert, wenn das Gehirn neue Informationen verarbeiten muss.

Die neuen Einsichten in die Gedächtnisbildung erhellen eine der wichtigsten Hirnfunktionen. Zwar ist noch viel zu tun, bevor so grundlegende Erkenntnisse wie die nun vorliegenden zur Entwicklung von Behandlungsmethoden für Gedächtnisstörungen (etwa bei Alzheimer, Parkinson oder Demenz) beitragen können – aber sie sind ein unverzichtbarer erster Schritt auf dem Weg dorthin.

Publikation:

Maria Diamantaki, Markus Frey, Patricia Preston-Ferrer, Andrea Burgalossi: Priming Spatial Activity by Single-Cell Stimulation in the Dentate Gyrus of Freely-Moving Rats. Current Biology (im Druck). 4. Februar 2016.

Korrespondierender Autor:

Dr. Andrea Burgalossi
Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)
<link mail window for sending>andrea.burgalossi[at]cin.uni-tuebingen.de

Pressekontakt CIN:

Dr. Paul Töbelmann
Wissenschaftskommunikation
Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)
Otfried-Müller-Str. 25
72076 Tübingen
Tel.: +49 7071 29-89108
<link mail window for sending>paul.toebelmann[at]cin.uni-tuebingen.de
<link http: www.cin.uni-tuebingen.de>www.cin.uni-tuebingen.de

Die Universität Tübingen

Innovativ. Interdisziplinär. International. Die Universität Tübingen verbindet diese Leitprinzipien in ihrer Forschung und Lehre, und das seit ihrer Gründung. Seit mehr als fünf Jahrhunderten zieht die Universität Tübingen europäische und internationale Geistesgrößen an. Immer wieder hat sie wichtige neue Entwicklungen in den Geistes- und Naturwissenschaften, der Medizin und den Sozialwissenschaften angestoßen und hervorgebracht. Tübingen ist einer der weltweit führenden Standorte in den Neurowissenschaften. Gemeinsam mit der Medizinischen Bildgebung, der Translationalen Immunologie und Krebsforschung, der Mikrobiologie und Infektionsforschung sowie der Molekularbiologie der Pflanzen prägen sie den Tübinger Forschungsschwerpunkt im Bereich der Lebenswissenschaften. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Geo- und Umweltforschung, Astro-, Elementarteilchen- und Quantenphysik, Archäologie und Anthropologie, Sprache und Kognition sowie Bildung und Medien. Die Universität Tübingen gehört zu den elf deutschen Universitäten, die als exzellent ausgezeichnet wurden. In nationalen und internationalen Rankings belegt sie regelmäßig Spitzenplätze. In diesem attraktiven und hoch innovativen Forschungsumfeld haben sich über die Jahrzehnte zahlreiche außeruniversitäre Forschungsinstitute und junge, ambitionierte Unternehmen angesiedelt, mit denen die Universität kooperiert. Durch eine enge Verzahnung von Forschung und Lehre bietet die Universität Tübingen Studierenden optimale Bedingungen. Mehr als 28.000 Studierende aus aller Welt sind aktuell an der Universität Tübingen eingeschrieben. Ihnen steht ein breites Angebot von rund 300 Studiengängen zur Verfügung – von der Ägyptologie bis zu den Zellulären Neurowissenschaften.

Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)

Das Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) ist eine interdisziplinäre Institution an der Eberhard Karls Universität Tübingen, finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern. Ziel des CIN ist es, zu einem tieferen Verständnis von Hirnleistungen beizutragen und zu klären, wie Erkrankungen diese Leistungen beeinträchtigen. Das CIN wird von der Überzeugung geleitet, dass dieses Bemühen nur erfolgreich sein kann, wenn ein integrativer Ansatz gewählt wird.

Eberhard Karls Universität Tübingen
Hochschulkommunikation
Dr. Karl Guido Rijkhoek
Leitung
Antje Karbe
Pressereferentin
Telefon +49 7071 29-76789
Telefax +49 7071 29-5566
antje.karbe[at]uni-tuebingen.de

www.uni-tuebingen.de/aktuelles

Downloads

Zurück