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06.12.2019
Staudämme gefährden Artenvielfalt in Flüssen
Studie der Universität Tübingen ermittelt, wo Süßwasser-Ökosysteme besonders von Dammprojekten beeinträchtigt werden
Binnengewässer zählen zu den vielfältigsten Ökosystemen weltweit, vergleichbar tropischen Regenwäldern und Korallenriffen. Zugleich sind Flüsse und Seen besonders gefährdet: Durch den ungebremsten Bau von Staudämmen steigt der Druck auf den Lebensraum von Süßwassertieren zusätzlich, deren einzigartige biologische Vielfalt nimmt weiter ab. Unter Leitung von Professorin Christiane Zarfl vom Zentrum für Angewandte Geowissenschaften der Universität Tübingen hat ein internationales Forscherteam diejenigen Regionen identifiziert, deren Vielfalt an Süßwasserarten durch Staudämme besonders gefährdet sein könnte.
Das Team mit Partnern unter anderem vom Institut für Umweltsystemforschung Osnabrück, dem Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin und der Weltnaturschutzunion (IUCN) untersuchte die Standorte weltweit geplanter und im Bau befindlicher großer Staudammprojekte. Dabei bezog es die Vorkommen von Süßwasser-Megafauna-Arten und der bedrohten Arten unter ihnen mit ein. So konnten sie künftige Standorte nach ihren potenziellen Auswirkungen auf diese Arten klassifizieren. Zur Süßwasser-Megafauna zählen alle Tierarten, die vorwiegend in Flüssen oder Auen leben und 30 Kilogramm oder mehr schwer sind, etwa Flussdelfine, Krokodile, Riesensalamander und Störe. Die Erkenntnisse weisen auf mögliche Konflikte zwischen Klimaschutz und Artenschutz hin.
Viele Regierungen forcieren den Ausbau der Wasserkraft zur Bekämpfung des Klimawandels, da dies eine Quelle erneuerbarer Energie ist. Der Dammbau ist eine etablierte Technologie zur Erzeugung von Elektrizität. Weltweit sind mehr als 3.700 mittlere und große Wasserkraftwerke im Bau oder in Planung. Global boomt der Staudammbau vor allem in Südamerika, im Amazonas- und La-Plata-Flusseinzugsgebiet, in Süd- und Ostasien, im Ganges-Brahmaputra- und Jangtse-Einzugsgebiet sowie in Afrika. Dies ist auf das noch vorhandene große Wasserkraftpotenzial in den Ländern des Globalen Südens zur Unterstützung von Industrie und Entwicklung zurückzuführen. In Europa ist besonders die Balkanregion vom Ausbau betroffen – zugleich ist dies die artenreichste Region in Europa.
Zwar trägt die Energiegewinnung aus Wasserkraft zur Lebensgrundlage für Millionen Menschen bei, sie birgt gleichzeitig viele negative Folgen für wassergebundene Ökosysteme. Dazu zählen Konflikte der Bevölkerung über die Wassernutzung, aber auch Veränderungen im Sedimenttransport, eine Verschlechterung der Wasserqualität, sowie Veränderungen der Lebensraumbedingungen für Süßwassertiere. Staudämme gefährden die einzigartige Süßwasser-Megafauna: Sie blockieren die Wanderwege für Megafische wie Störe und Riesenwelse, erschweren den Zugang zu Laichgebieten und reduzieren oder verschlechtern die Lebensräume von Süßwassertierarten sowohl flussauf- und abwärts. Dadurch sind die Dämme Mitverursacher für den Rückgang der Süßwasser-Megafauna, darunter bereits massiv bedrohter Arten wie der Indusdelfin, der Chinesische Stör und weitere Störarten.
In der aktuellen Studie diente das Vorkommen von Süßwasser-Megafauna-Arten als Indikator, um den Zustand der Süßwasserbiodiversität zu bewerten. Es wird vermutet, dass der Verlust solcher Arten gleichzeitig auf einen Rückgang kleinerer Arten hinweist. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben geplante Standorte für Staudämme weltweit mit dem Vorkommen von Megafauna-Arten und dem jeweiligen Anteil bedrohter Arten abgeglichen. So konnten sie Staudammprojekte hinsichtlich ihrer möglichen Folgen für die Vielfalt von Süßwasserarten kategorisieren und quantifizieren, in welchen Regionen Ökosysteme und Artenvielfalt besonders gefährdet sein könnten. Die Analysen beziehen dabei das gesamte Einzugsgebiet eines Flusses, also Flusslauf und Nebenflüsse mit ein, da ein Staudamm nicht isoliert betrachtet werden kann. Viele der geplanten Staudämme sollen in Gebieten mit der größten Artenvielfalt an Süßwassertieren gebaut werden, wie etwa an den Flüssen Amazonas, Kongo, Mekong und Ganges.
Mit den Ergebnissen lassen sich jene Staudammprojekte innerhalb eines Flusseinzugsgebiets identifizieren, die ein nachhaltiges Management von Flusseinzugsgebieten erschweren. „Die biologische Vielfalt muss in die Entscheidungsfindung über neue Staudämme einbezogen werden“, so Christiane Zarfl, „damit Klimaschutz nicht auf Kosten von Artenschutz vorangebracht wird.“
Publikation:
Zarfl C., Berlekamp J., He F., Jähnig S.C., Darwall W., Tockner K.: Future large hydropower dams impact global freshwater megafauna. Scientific Reports. DOI 10.1038/s41598-019-54980-8
Kontakt:
Prof. Dr. Christiane Zarfl
Universität Tübingen
Zentrum für Angewandte Geowissenschaften – Umweltsystemanalyse
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