Uni-Tübingen

Aktuelles

27.04.2022

Austausch ist nicht gleich Austausch

Mit „Kollegialer Beratung“ Probleme gemeinsam und strukturiert lösen

Bei einer Kollegialen Beratung ist der Kopfstand keine Geschicklichkeitsübung, sondern eine Methode, um eine Fragestellung einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Wieder einmal ist eine berufliche Herausforderung da! Ihr Arbeitsgruppenziel droht nicht erreicht zu werden, Personalveränderungen erfordern ein noch gezielteres Wissensmanagement, ein schwelender Konflikt beeinträchtigt den Informationsfluss und dabei arbeiten Sie doch schon seit Wochen mehr denn je und möchten sich längst zu einem für Sie zukunftsrelevanten Thema weiterbilden. 

Berufliche Führungspraxis – ob in Forschung, Lehre oder im Management, ob an Universitäten, in Wirtschaftsunternehmen oder in anderen Sektoren – bringt üblicherweise diese oder ähnliche Herausforderungen mit sich. Das ist normal und Führungskräfte gehen diese Herausforderungen ganz unterschiedlich an. Dennoch ist es nicht immer die mühsam allein erarbeitete Lösung, die langfristig zu Erleichterung und Verbesserung führt. Das strukturierte Beratungsformat der „Kollegialen Beratung“ nach Tietze bietet Berufstätigen einen geschützten Rahmen, in dem sie „unter Menschen aus ähnlichen Arbeitsfeldern eine qualifizierte Beratung zu beruflichen Problemen“ (Tietze, 2020, S. 11) erfahren. An Universitäten und Hochschulen in Deutschland etablieren sich kollegiale Beratungsformate seit einigen Jahren zunehmend (Müller/Moosbuchner, 2019, S. 57). Sie erweisen sich für Führungskräfte, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Karrierestufen, Lehrende sowie für spezifischere Beschäftigtengruppen wie z. B. Frauen oder für spezielle Berufsgruppen wie z. B. Studienfachberaterinnen und Studienfachberater als zielführend. 

Die Methode der Kollegialen Beratung nach Tietze ist „ein strukturiertes Beratungsgespräch in einer Gruppe, in dem eine teilnehmende Person von den übrigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern nach einem feststehenden Ablauf mit verteilten Rollen beraten wird“ (2020, S. 11). Das Ziel ist es, Lösungen für eine konkrete berufliche Schlüsselfrage zu entwickeln. Die vorgegebene Struktur fördert Fokussierung und praktische Umsetzungsschritte. Zudem gibt es in jeder Gruppe bereits eine Vielzahl inspirierender Lösungsimpulse, die im Rahmen der gemeinsamen Arbeit an der zuvor definierten Schlüsselfrage aktiviert werden. Mit der Kollegialen Beratung können Teilnehmende an unterschiedlichen Zielsetzungen arbeiten. Neben der Generierung von Lösungsideen für konkrete Praxisprobleme bietet sich die Methode auch an, um eigene berufliche Tätigkeiten und Rollen zu reflektieren und Beratungskompetenz zu erwerben beziehungsweise auszubauen (Tietze, 2020, S. 19). An dieser Stelle sei besonders auf den von zahlreichen Führungskräften zurückgemeldeten Mehrwert der institutionsinternen, berufsgruppenübergreifenden Vernetzung hingewiesen, die in vielen Fällen weit über die  Termine der Kollegialen Beratung hinauswirkt. 

Das Prinzip der Kollegialität ist zentral für diese Methode. Es wird durch die Zusammensetzung der Beratungsgruppen geprägt, aber auch durch den Anspruch an „eine konstruktive Haltung und Kooperation der Gruppenmitglieder untereinander“ (Tietze, 2020, S. 14). Für die Etablierung kollegialer Beratungsgruppen in der Praxis sind für die Durchführungsverantwortlichen, z. B. die Mitarbeitenden der Personalentwicklung, zwei Aspekte besonders relevant. Erstens sorgen sie für eine geeignete Gruppenzusammensetzung: Die Gruppenmitglieder sind gleichberechtigt und stehen in keiner formalen hierarchischen Beziehung (Müller/Moosbuchner, 2019, S. 60). Sie haben ein vergleichbares berufliches Betätigungsfeld bzw. die Fähigkeit, sich in das Betätigungsfeld der Kolleginnen und Kollegen einzudenken. Dadurch können alle Gruppenmitglieder gleichermaßen die Rolle des/der Beratenden einnehmen. Zweitens schaffen Durchführungsverantwortliche einen Rahmen, in dem  von den Teilnehmenden eine „wechselseitige Hilfsbereitschaft“ (Tietze, 2020, S. 14), das Interesse an beruflichen Herausforderungen anderer, die Offenheit für kreative Denk- und Lösungsansätze und ein pointierter, wertschätzender Umgang untereinander erwartet wird.

Der klassische Ablauf der Kollegialen Beratung nach Tietze sieht sechs Phasen vor, die die Gruppe nacheinander in einem zeitlich begrenzten Zeitfenster von jeweils rund 5 bis 10 Minuten durchläuft (2020: 60):

  • 1. Phase:  Anfangsrunde und Rollenbesetzung
  • 2. Phase: Spontanbericht des Falleinbringers bzw. der Falleinbringerin
  • 3. Phase: Findung der Schlüsselfrage
  • 4. Phase: Methodenwahl
  • 5. Phase: Beratungsphase 
  • 6. Phase: Abschlussphase

In der Anfangsrunde kommen alle Teilnehmenden zu Wort. Sie haben die Möglichkeit, ihre aktuelle berufliche Situation und persönliche Befindlichkeit anzusprechen und ein mögliches Beratungsanliegen anzumelden. Darauf folgt die Einigung auf 1–2 konkrete, oftmals als besonders dringlich markierte Beratungsanliegen und die Rollenverteilung (falleinbringende Person, Moderation, Beratende, ggfs. Protokollantin bzw. Protokollant) innerhalb der Gruppe. Die zweite Phase sieht eine ausführlichere Schilderung des Falls durch eine falleinbringende Person vor sowie ein anschließendes Zeitfenster für Nachfragen der Beratenden. Erst wenn alle Nachfragen der beratenden Kolleginnen und Kollegen geklärt sind, formuliert der/die Falleinbringende eine Schlüsselfrage, d. h. den gewünschten Ertrag, den er bzw. sie aus der Beratung mit nach Hause nehmen möchte. In der Praxis unterstützt die Moderation, ggfs. auch die Beratenden, bei der Findung der Schlüsselfrage und der anschließenden Methodenwahl. Zu den gängigen Beratungsmethoden zählen Brainstorming-, Feedback- und Kreativitätsmethoden (z. B. 6 Denkhüte Methode nach de Bono) sowie Elemente des Psychodramas (z. B. Actstorming) oder dem Führungskräftecoaching (z. B. Inneres Team nach Schulz von Thun). Während der Beratungsphase kommen die Beratenden nacheinander zu Wort und der/die Falleinbringende hört zu, ohne sich zu den Impulsen direkt zu äußern. In der Beratungsphase ist die Moderation besonders gefordert: es geht darum, einerseits die methodenkonformen Redebeiträge der Beratenden, andererseits die Befindlichkeit des/der Falleinbringenden im Blick zu behalten. In der Abschlussphase resümiert der/die Falleinbringende hilfreiche Beiträge der Kolleginnen und Kollegen und bedankt sich bei der Runde. Optional leitet die Moderation eine Blitzlichtrunde ein, damit alle Beteiligten ihre aktuelle Befindlichkeit thematisieren, Feedback geben und ggfs. ihr „stellvertretendes Lernen“ (Müller/Moosbuchner, 2019, S. 58) mitteilen können. 

Üblicherweise treffen sich kollegiale Beratungsgruppen in regelmäßigen Abständen von 4 bis 12 Wochen. Auch wenn die von Tietze geprägte Methode vorsieht, dass die Moderation nach einer temporären Begleitung durch eine professionelle Moderation von einem Gruppenmitglied übernommen wird, um dem Gedanken der selbstgesteuerten Gruppe gerecht zu werden, zeigt die Erfahrung aus dem Hochschulkontext, dass viele kollegiale Beratungsgruppen eine Moderation durch externe Trainerinnen und Trainer, Personal der Personalentwicklung oder der Hochschuldidaktik bevorzugen.

An der Universität Tübingen steht allen Führungskräften die Möglichkeit offen, das Format der Kollegialen Beratung zu nutzen. Die Förderung und Unterstützung kollegialer Beratungsgruppen ist Teil des Umsetzungsprozesses der Leitlinien guter Führung. Regelmäßig finden theoretische Einführungen in die Methode statt, an die sich moderierte Beratungsrunden anschließen. Diese Beratungsrunden orientieren sich grundsätzlich am oben geschilderten Ablauf nach Tietze. Um den Zusammenhang zwischen den individuellen Beratungsanliegen der Führungskräfte der Universität Tübingen mit den im Herbst 2021 verabschiedeten Leitlinien guter Führung zu verdeutlichen, erweist es sich in der Praxis als förderlich, die Abschlussphase durch eine leicht modifizierte Reflexion zu erweitern. Während dieser reflektiert und erörtert die Beratungsgruppe, inwieweit die Leitlinien guter Führung im bearbeiteten Fall das zukünftige (neue) Führungshandeln unterstützen. Diese Reflexionsschleife trägt dazu bei, dass die beteiligten Führungskräfte einerseits ihr Führungshandeln als Teil der universitären Kultur erleben, andererseits in ihrem Selbstvertrauen in die eigenen Führungskompetenzen durch die Rückbindung an ein partizipativ erarbeitetes und verbindliches universitäres Konzept – die Leitlinien – gestärkt werden. Der eingangs eingebrachte Beratungsfall in Form einer Irritation, Unsicherheit oder eines Problems schafft somit die Voraussetzung für die multiperspektivische Gruppenreflexion, die Rückbindung an ein anerkanntes Konzept sowie die anschließende experimentierende Umsetzung im konkreten Berufsalltag des/der Falleinbringenden, so z. B. im Kontext von Forschung, Lehre oder Management. Die kollegiale Beratungspraxis erweist sich schlussendlich für alle Teilnehmenden als ein erfahrungsbasierter Lernprozess, der die für einen erfolgreichen „Learning Cycle“ notwendigen Phasen „Erfahrung“, „Reflexion“, „Konzepte“ und „Experimente“ umfasst (Kolb, 1984). 

Aktuell gibt es bereits mehrere etablierte Kollegiale Beratungsgruppen an der Universität Tübingen, die sich rund alle drei Monate treffen. Sowohl interne Moderationen durch die Personalentwicklung als auch externe Moderationen kommen zur Anwendung. Interessierten Führungskräften steht es frei, sich einer bestehenden Kollegialen Beratungsgruppe anzuschließen oder ihr Interesse an einer neuen Gruppe zu bekunden. Bei den Gruppenzusammensetzungen wird auf die jeweiligen individuellen Bedarfe eingegangen. Möglich sind neben berufsgruppenübergreifenden Gruppen auch spezifischere Formate für Leitungsgremien, Professorinnen und Professoren, Juniorprofessorinnen und Juniorprofessoren mit Tenure-Track, Frauen, neue oder erfahrene Führungskräfte etc. 

Daniela Bister

Ansprechpartnerinnen für Rückfragen und die Planung Ihrer Kollegialen Beratung:

Dr. Inga Bause und Dr. Daniela Bister. Weitere Informationen und Kontakt auf der Webseite der Abteilung Personalentwicklung 

Literaturangaben:

  • Kolb, D. A. (1984). Experiental Learning. Experience as source of learning and development. Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice Hall.
  • Tietze, K.-O. (2020). Kollegiale Beratung. Problemlösungen gemeinsam entwickeln (10. Aufl.). Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag.
  • Müller, M./Moosbuchner, M. (2019). Kollegiale Beratungsformate für die 
  • Personalentwicklung an Hochschulen nutzen. Personal in Hochschule und Wissenschaft entwickeln, 1, 55-70: DUZ Medienhaus.
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