Uni-Tübingen

attempto online Forschung

08.11.2019

Künstliche neuronale Netze verraten, welche Sehreize das Gehirn ansprechen

Sehen ist einer unserer wichtigsten Sinne. Der Prozess, der mit dem Auftreffen von Licht auf der Netzhaut des Auges beginnt und mit der Wahrnehmung der Umwelt endet, ist alles andere als einfach. Dr. Fabian Sinz und Dr. Edgar Y. Walker von der Universität Tübingen und dem Baylor College of Medicine in Houston haben gemeinsam mit Kollegen von beiden Forschungseinrichtungen grundlegende Eigenschaften von Nervenzellen untersucht. Die Forscher wollten wissen, welche Informationen von Nervenzellen aus dem Bild auf der Netzhaut herausgefiltert werden. Sie haben dafür ein künstliches neuronales Netz trainiert, das die Reaktionen der Nervenzellen des Sehsystems von Mäusen beim Anblick eines Bildes präzise vorhersagen kann. Mit Hilfe dieses künstlichen Netzes haben sie dann neue Bilder synthetisiert, die in bestimmten Nervenzellen besonders starke Antworten hervorrufen. Ihre Untersuchung ist jetzt in der Fachzeitschrift Nature Neuroscience erschienen.

Die unzähligen Nervenzellen im Gehirn verrichten ihre Arbeit, indem sie durch bestimmte Reize anderer Nervenzellen angeregt werden und diese Erregung gezielt an andere Nervenzellen im Gehirn weiterleiten. „Der Frage, wie Reize beschaffen sein müssen, um besonders stark auf die für das Sehen zuständigen Nervenzellen zu wirken, ist man bisher nur sehr mühsam näher gekommen – insbesondere bei Nervenzellen mit komplexen Antworteigenschaften“, sagt Fabian Sinz. Das Problem dabei ist die immense Anzahl von möglichen Bildern, die die geschätzte Anzahl von Atomen im bekannten Universum bei Weitem übersteigt. Bei der gezielteren Suche nach den optimalen Reizen half dem Forschungsteam jetzt ein tiefes künstliches neuronales Netzwerk.

Training mit biologischen Daten

Dafür nahmen die Forscher mithilfe eines speziellen bildgebenden Verfahrens die Hirnaktivität von Mäusen auf, denen 5.100 Bilder präsentiert wurden. „Diese Bilder und die jeweils entsprechenden Aufzeichnungen der Hirnaktivität nutzten wir, um ein künstliches neuronales Netzwerk darauf zu trainieren, wie echte Nervenzellen auf visuelle Reize antworten“, sagt Edgar Walker. Dieses Netzwerk könne man sich wie eine virtuelle Kopie eines Teils des Sehsystems der Maus vorstellen. „Um zu testen, ob das künstliche Netzwerk tatsächlich gelernt hatte, die Antworten eines lebenden Mäusegehirns auf Bilder vorherzusagen, zeigten wir dem Netzwerk Bilder, die es aus seiner Lernphase nicht kannte. Im Ergebnis konnte es die biologischen Antworten der Nervenzellen sehr gut vorhersagen“, fasst Sinz zusammen.

Virtuelle Experimente im großen Stil

Mit dem künstlichen Netzwerk sind nun virtuelle Experimente im großen Stil möglich. Um dies zu demonstrieren, generierten die Forscher mit Hilfe des Netzwerks neue Bilder, die dafür optimiert waren, bestimmte Nervenzellen besonders anzusprechen. Als diese Bilder dann der Maus in einem nachfolgenden Versuch präsentiert wurden, regten sie ihre entsprechenden Nervenzellen tatsächlich am besten an. „Dieser Ansatz offenbarte einige Aspekte des Sehsystems, die wir so nicht erwartet hätten“, sagt Professor Andreas S. Tolias vom Baylor College. 

„Unsere Methode könnte allgemein zur Untersuchung der Repräsentation von Informationen im Gehirn genutzt werden“, sagt Sinz: „Ein künstliches neuronales Netzwerk lernt eine ‚virtuelle Kopie‘ von tausenden Nervenzellen, um auf diesen Rechenexperimente durchzuführen, die dann in physiologischen Experimenten überprüft werden können.“ Und er setzt hinzu: „So können wir hoffentlich künftig besser verstehen, wie komplexe neurophysiologische Prozesse im Gehirn uns das Sehen ermöglichen.“

Nach einer Pressemitteilung des Baylor College of Medicine/Janna Eberhardt, Hochschulkommunikation

Publikation:

Edgar Y. Walker, Fabian H. Sinz, Erick Cobos, Taliah Muhammad, Emmanouil Froudarakis, Paul G. Fahey, Alexander S. Ecker, Jacob Reimer, Xaq Pitkow and Andreas S. Tolias: Inception loops discover what excites neurons most using deep predictive models. Nature Neuroscience, https://doi.org/10.1038/s41593-019-0517-x 

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