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17.11.2021
Fragmente einer verloren geglaubten indigenen Sprache in Nordperu dokumentiert
Mitarbeiter eines Tübinger Forschungsprojekts spürt eine der letzten Sprecherinnen des Cholón auf
Die indigenen Sprachen Südamerikas verschwinden in immer schnellerem Tempo. Nun konnte durch Mitarbeiter eines Tübinger Forschungsprojekts eine schon verloren geglaubte Sprache Nordperus, das Cholón, teilweise noch dokumentiert werden.
In das peruanische Städtchen Juanjuí, am Ufer des Huallagaflusses, im üppigen Grün des Tieflands Südamerikas in der Nähe der nordperuanischen Anden gelegen, verirren sich nur wenige Fremde. Einer von ihnen war im letzten Herbst unterwegs: der peruanische Sprachwissenschaftler Luis Miguel Rojas Berscia. Er war im Rahmen einer Kooperation mit der an der Universität Tübingen angesiedelten Nachwuchsforschungsgruppe „The language dynamics of the ancient Central Andes“ unterwegs. Grund ist, dass die Gegend neben allgegenwärtigen Petroglyphen – Felszeichnungen, die von den vorkolumbianischen Kulturen der Region zeugen – noch ein weiteres indigenes kulturelles Erbe beherbergt: eine schon ausgestorben geglaubte Sprache, die einst in diesem Gebiet gesprochen wurde: das Cholón, oder wie die Sprache von ihren Sprechern selbst genannt wurde, Seeptsá.
Die Grammatik dieser Sprache ist in erster Linie durch den katholischen Missionar Pedro de la Mata bekannt, der sie als Hilfe für andere in der Region aktive Missionare Mitte des 18. Jahrhunderts dokumentierte. Auf der Basis dieses Materials bleiben viele Fragen offen – insbesondere was die Aussprache betrifft. Außerdem verwendete der Grammatiker des 18. Jahrhunderts eine unsystematische Schreibweise, die der Struktur der Sprache wahrscheinlich nicht angemessen war. Direkte Vergleichsmöglichkeiten gibt es keine – von der einzigen möglicherweise verwandten Sprache, dem Híbito, sind nur wenige Wörter bekannt, und die Sprache ist schon länger ausgestorben. Gleichzeitig legt die Evidenz der kolonialen Grammatik nahe, dass das Cholón in seiner Struktur eine interessante Zwischenstellung zwischen Anden- und Tieflandsprachen eingenommen hat: so gibt es Präfixe am Verb für das Subjekt und das Objekt wie in vielen Tieflandsprachen und gleichzeitig ein reiches System von ungefähr 10 Kasus wie in den meisten Andensprachen.
Während seines Aufenthalts im vormals cholónsprachigen Gebiet im August 2021 ging Rojas Berscia buchstäblich von Tür zu Tür auf der Suche nach Zeugnissen des Cholón und konnte Bekanntschaft mit Martha Pérez Valderrama machen. Doña Martha, so stellte sich heraus, stammt von Cholónsprechern aus San Buenaventura del Valle ab. Sie hat in ihrer Kindheit von ihrer Großmutter, einer der letzten Sprecherinnen des Cholón, viel über die Sprache gelernt – und erinnert sich bis heute an Wörter, Begrüßungsformeln, und sogar Lieder, die sie mit ihrer Großmutter gesungen hat.
Dieses kulturelle Wissen haben beide nun gemeinsam dokumentiert. Es wurde, wie es üblich ist, in digitaler Form der Forschungsgemeinschaft, aber auch der interessierten lokalen Bevölkerung, die sich jetzt oder in Zukunft über ihr kulturelles Erbe informieren möchte, über das Archive of the Indigenous Languages of Latin America online zugänglich gemacht.
„Ich kannte die Grammatik des Cholón auf der Basis der schriftlichen Quellen aus der Kolonialzeit. Die Sprache dann tatsächlich gesprochen und gesungen zu hören, war ein unglaublicher Moment. Ich bin sehr glücklich, dass es gelungen ist, diese Aufnahmen zu machen, und vor allem auch mit der Sprache assoziierte Kulturgüter wie Geschichten und Lieder zu dokumentieren und für die Nachwelt bewahren zu können. Obwohl das Material in diesem Fall im Umfang begrenzt ist tragen wir als Sprachwissenschaftler und Anthropologen so zur Dokumentation der kulturellen Vielfalt der Menschheit bei,“ sagt Matthias Urban, der Leiter der Tübinger Forschergruppe.
Weitere Informationen: The Cholon Language Collection of Luis Miguel Rojas Berscia
Junior Research Group 'The Language Dynamics of the Ancient Central Andes'