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06.12.2019
Landeslehrpreis 2019 für standortübergreifende Seminare zu Friedens- und Konfliktforschung
Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus Tübingen und Freiburg für gemeinsames Projekt ausgezeichnet
Alexander Kobusch, Dr. Thomas Nielebock, Natalie Pawlowski und PD Dr. Gabi Schlag vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen sind gemeinsam mit Julia Gurol und Ingo Henneberg von der Universität Freiburg mit dem Landeslehrpreis des Landes Baden-Württemberg 2019 ausgezeichnet worden. Prämiert wurde ihr Konzept für standortübergreifende Ringseminare in der Friedens- und Konfliktforschung in den Jahren 2016 bis 2019. „In Zeiten der Globalisierung und des digital bereitgestellten Wissens sind auch in Wissenschaft und Lehre Vernetzung und Austausch wichtiger denn je, damit wir weiterhin ein Land der Innovationen mit erstklassigen Lehrenden bleiben. Die Freiburger und Tübinger Studierenden und Lehrenden haben gezeigt, wie Vernetzung und internationale Teilhabe an Wissen im digitalen Zeitalter funktioniert – und das in einem hochrelevanten Themengebiet“, sagte Wissenschaftsministerin Theresia Bauer anlässlich der Verleihung Anfang Dezember. Maximilian von Platen hat die Tübinger Preisträgerinnen und Preisträger interviewt.
Was ist das Besondere an dem ausgezeichneten Lehrprojekt
Alexander Kobusch: In unseren Ringseminaren werden Studierende und Lehrende mehrerer deutscher Hochschulen in Präsenzsitzung zusammengeschaltet. Diese Form des „synchronen Lernens“ über Videokonferenzen ermöglicht eine direkte Kommunikation ohne Zeitverzögerung. Fragen an Lehrende oder andere Studierende können sofort gestellt werden, als Wortbeitrag in der Konferenz oder im Chat. Wir sprechen bei dieser Form der standortübergreifen Lehre auch von cross site-Lehre. Besonderheit bei unserem Projekt im Vergleich zu vielen virtuellen Seminaren: es gibt an jedem der sechs bis acht Standorte mindestens eine Lehrperson und die Studierenden treffen sich in Präsenz.
Thomas Nielebock: Dabei setzen wir zusätzlich auf das Konzept des inverted (flipped) classroom: Wir laden für jede Sitzung internationale Expertinnen und Experten ein, einen Videobeitrag zu erstellen. Dieser Beitrag ist vor der Seminarsitzung online abrufbar wird ergänzt durch Texte und andere Materialien. All dies dient den Studierenden zur Vorbereitung. In den Seminarsitzungen selbst, die über Videokonferenzen laufen, geht es bei diesem Konzept nach einer kurzen Einleitung direkt in die Diskussion mit den zugeschalteten Expertinnen und Experten. Das bedeutet, dass im Seminar die Interaktion viel ausgeprägter ist und die zwei Stunden viel intensiver genutzt werden können. Die Studierenden kommen mehr zu Wort als bei klassischen Lehrformaten, die Lehrenden nehmen sich – wenn die Sitzung gut läuft – ganz zurück.
Natalie Pawlowski: Der dritte Aspekt sind die hochschulübergreifenden Arbeitsgruppen, in denen Studierende aller beteiligten Hochschulen sitzen. Diese Gruppen arbeiten im Semester gemeinsam an einem Projekt und bringen dies auch gemeinsam zum Abschluss. Sie erarbeiten Materialien (Texte, Grafiken, Videos, Karikaturen) zu einzelnen Teilaspekten, die über ILIAS und ein E-Learning-Portal zugänglich gemacht werden. Die Studierenden können so alle erarbeiteten Materialien auch nachträglich rekapitulieren und verwenden, und die Materialien stehen zusätzlich der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung.
Gabi Schlag: Die genannten Konzepte sind jedes für sich genommen keine Innovation, aber in dieser Kombination und Größenordnung unseres Wissens nach einmalig. Dabei ist uns sehr wichtig, dass es kaum Materialien gibt, die nur für die Lehrenden erarbeitet werden und dann für immer in der Schublade verschwinden. Die anderen Studierenden nutzen die verschiedenen Beiträge ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen zur eigenen Vorbereitung und die Materialien werden teilweise später für das öffentlich zugängliche E-Learning-Portal verwendet, das erhöht die Motivation.
Wie bereiten Sie das Seminar vor? Wie laufen die Seminarsitzungen ab?
Thomas Nielebock: Für die Vorbereitung gibt es lange vor Semesterstart zweiwöchentliche Videokonferenzen, in denen sich die Lehrenden der verschiedenen Standorte absprechen und die Lehr- und Lernformen sowie Inhalte entwickeln. Meistens über Skype oder über eine spezielle Konferenzsoftware.
Natalie Pawlowski: In jeder Seminarsitzung gibt es einen Lead-Standort. Er bereitet die Sitzung vor und gibt zu Beginn eine 15-minütige Einleitung in das Thema und den Ablauf. Anschließend haben alle Seminarteilnehmer die Möglichkeit, 30 bis 45 Minuten mit dem zugeschalteten Experten zu diskutieren. Diese haben zuvor ein Video mit ihrem Impulsvortrag für die Studierenden zur Vorbereitung zur Verfügung gestellt. Anschließend gibt es eine Offline-Phase, die ca. 30-45 Minuten dauert. Hier werden an jedem Standort Ergebnisse für einen Teilaspekt erarbeitet und zusammengefasst. Zum Abschluss der wöchentlichen Seminarsitzung präsentieren alle Standorte live die komprimierten Arbeitsergebnisse der Offline-Phase.
Das Konzept erfordert eine sehr gute Vorbereitung, um in 90 Minuten alle Elemente unterzubringen. Die große Herausforderung für die Lehrenden ist es dabei, den Überblick zu bewahren: was ist jetzt dran, wie sind wir im Zeitplan, wer darf jetzt sprechen?
Alexander Kobusch: Für die von uns eingeladenen Expertinnen und Experten ist das Format attraktiv: sie haben einen geringeren Zeitaufwand, denn sie müssen für ihren Vortrag nicht extra anreisen. Gleichzeitig erreichen sie mit ihrem Videovortrag und der anschließenden Live-Diskussion viel mehr Studierende als bei einem klassischen Vortrag an nur einem Standort. Zur Vorbereitung erhalten die Expertinnen und Experten das Thema, den Kontext des Seminars und eine Handreichung für die Erstellung des Videos. Zwar ist häufig die Hemmschwelle bei der Erstellung des Videos zu Beginn höher, dafür wird aber sehr die intensive Diskussion über den Videovortrag geschätzt. Die Rückmeldungen sind durchweg sehr positiv.
Videokonferenzen und E-Learning-Portale – wer stellt die Infrastruktur für das Seminar zur Verfügung?
Alexander Kobusch: Die Universität Tübingen ist vergleichsweise gut aufgestellt, weil es mit dem Gebhard-Müller-Saal einen Multimedia-Konferenzraum der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät gibt. Hier sind Video- und Webkonferenzen mit bis zu 25 Teilnehmern möglich. An den Sitzplätzen können Mikrofone aufgebaut werden, darüber hinaus sind zwei Webcams mit Zoomfunktion im Raum.
An anderen Standorten läuft es teilweise in normalen Seminarräumen, mit mobilen Konferenzsystemen. Die Praxis zeigt, dass gerade dort die Tonqualität der Knackpunkt ist, das Bild ist in der Regel nicht das Problem. Im Audiobereich sind wir in Tübingen sehr gut ausgestattet, bei den Kameras gäbe es aber sicherlich noch Entwicklungspotential. Kameras, die es ermöglichen, die gerade Sprechenden zeitnah in Großaufnahme zu zeigen, sind an den wenigsten Standorten vorhanden. Das mag nach einem Randaspekt klingen, ist aber für eine gelingende Kommunikation über die Entfernung sehr wichtig.
Natalie Pawlowski: Wir teilen uns unter den Standorten die Arbeitsaufgaben auf, jeder Standort erarbeitet sich seine Expertise. Die Kolleginnen und Kollegen in Freiburg haben beispielsweise die Ilias-Lernplattform, die Videoplattform und zumeist die Konferenz-Software bereitgestellt. Wir in Tübingen haben dagegen stärker an der inhaltlichen und didaktischen Konzeption gearbeitet.
Den Studierenden ist es selbst überlassen, welche Kanäle sie für ihre Gruppenarbeit nutzen – Skype, E-Mail, WhatsApp oder anderes. Wir stellen beispielsweise einen Ilias-Arbeitsraum und einen Arbeitsraum bei Adobe Connect zur Verfügung.
Wie ist das Feedback für das Ringseminar?
Thomas Nielebock: Die Expertenvideos und die anschließende Diskussion mit den Expertinnen und Experten werden von den Studierenden am besten bewertet. Direkt dahinter folgt immer die lokale Diskussion in der Offline-Phase. Daraus kann man ablesen, dass die Studierenden keine reine digitale Lehre wollen, sondern der Reiz des Ringseminars aus der Mischung von klassischer und digitaler Lehre entsteht.
Gabi Schlag: Wie in jedem Seminar klappt es in der einen Arbeitsgruppe besser als in der anderen. Die Erfahrung der bisherigen Ringseminare zeigt aber auch, dass es schwieriger ist, eine Arbeitsgruppe zum Laufen zu bringen, wenn alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer an unterschiedlichen Standorten sitzen. Wir bieten ein eigenes Studierendenhandbuch für diese Seminarreihe an. Aktuell überlegen wir, zusätzlich studentische Mentorinnen und Mentoren für die Betreuung der Arbeitsgruppen einzusetzen, die Anlaufschwierigkeiten überbrücken, Ergebnisse einfordern und Hilfestellungen bieten.
Natalie Pawlowski: Die Anforderungen bei uns sind hoch, Multi-Tasking und Eigeninitiative sind gefragt. Dafür fördert das Seminar soziale Kompetenzen und soft skills in besonderem Maße. Die Studierenden werden auf das moderne Arbeitsleben vorbereitet, in dem nicht immer alle am selben Ort arbeiten und Telefon- und Videokonferenzen Normalität sind. Das ist ein großes Plus für den Berufseinstieg nach dem Studium.
Alexander Kobusch: Uns ist eine ausgeprägte Feedback-Kultur sehr wichtig. Für die Kommunikation und das Feedback während der Live-Sitzungen kommt bei uns die Plattform Tweedback zum Einsatz, die Studierenden können live per Tablet, Notebook oder Handy Fragen stellen oder Kommentare abgeben. Das Ganze wird von einer Hilfskraft moderiert. So können sich alle Studierenden auch ohne Redebeiträge aktiv beteiligen, denn es ist unmöglich, dass in 90 Minuten alle 150 Seminarteilnehmerinnen und Teilnehmer zu Wort kommen.
Auch wir Lehrenden lernen permanent dazu: der Lead-Standort bekommt nach jeder Sitzung ein Feedback von den anderen Lehrenden. Aber auch die Rückmeldungen der Studierenden sind uns ein Anliegen. Wir führen jedes Jahr eine Evaluation durch, die besonders auf den Veranstaltungstyp ausgelegt ist. Die Ergebnisse haben zu einer kontinuierlichen Fortentwicklung des Formats geführt. Insgesamt attestieren die Studierenden uns einen höheren Lernerfolg als in klassischen Seminaren.
Welches Thema ist für das Sommersemester 2020 geplant?
Gabi Schlag: Im vergangenen Sommersemester haben wir unter dem Titel "Konfliktanalyse: Getrennt ist alles besser? – Dynamik, Transformation und Management aktueller Sezessionskonflikte" bereits die Konflikte in Nordirland und im Jemen behandelt. Im kommenden Sommersemester werden wir jetzt den Konflikt im Jemen nochmals als Einzel-Case aufgreifen, auch um die inhaltliche Komplexität zu reduzieren. Ziel ist eine noch tiefgreifendere Analyse der Details und Facetten dieses Konfliktes. Die Kollegin Julia Gurol aus Freiburg hat in einem anderen Projekt eine Kooperation mit der Universität Sanaa – vielleicht ergibt sich hieraus für unser Seminar die Möglichkeit, auch direkt mit Forscherinnen und Forschern vor Ort zu sprechen.
Video Ringseminar Politikwissenschaft
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