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04.10.2017
Tag der Epilepsie: Wie es zum Gewitter im Gehirn kommt
Neue DFG-Forschergruppe untersucht Mechanismen genetisch bedingter Epilepsien
Am 5. Oktober 2017 ist „Tag der Epilepsie“. Bei der Krankheit handelt es sich um eine der häufigsten chronischen Erkrankungen des zentralen Nervensystems. In Deutschland sind mehr als eine halbe Million Menschen von Epilepsie betroffen – und damit genauso viele, wie jedes Jahr neu an Krebs erkranken. Die Patienten leiden an einer gestörten Erregbarkeit der Nervenzellen im Gehirn. Zeitgleiche Entladungen ganzer Nervenzellverbände ähneln einem „Gewitter im Gehirn“ und führen zu den vielfältigen Formen von epileptischen Anfällen, die kurze Bewusstseinspausen bis schwere Muskelverkrampfungen umfassen können. Bei der Entstehung der Erkrankung spielen unterschiedliche Auslöser eine Rolle. Neben Hirnschädigungen nach Unfällen, Infektionen oder anderen Einflüssen kann eine genetische Veranlagung zur Krankheit führen. Eine neu von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierte Forschergruppe will nun den Mechanismen genetisch bedingter Epilepsieformen auf den Grund gehen. Bei der Forschergruppe handelt es sich um einen Zusammenschluss von Wissenschaftlern der Universitäten Tübingen, Bonn, Köln, Kiel, Luxemburg und Oslo. Ihr Sprecher ist Professor Dr. Holger Lerche am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung an der Universität Tübingen und dem Universitätsklinikum Tübingen.
„In den letzten Jahren hat die Entdeckung neuer Gendefekte entscheidend dazu beigetragen, Krankheitsmechanismen zu entschlüsseln und erste personalisierte Therapieansätze zu ermöglichen“, erklärt Lerche. Die meisten Genveränderungen, die zu Epilepsie führen, sind aber noch unbekannt. Ein gemeinsames Merkmal genetischer Epilepsien ist eine typische Altersabhängigkeit. Zwar können sie in jedem Alter auftreten, jedoch ist das Risiko für Kinder unter fünf Jahren besonders hoch. Zwei Drittel aller Patienten erkrankt bis zum 20. Lebensjahr – danach sinkt das Risiko, bis es im höheren Lebensalter wieder ansteigt. „Das lässt vermuten, dass Entwicklungsfaktoren bei der Krankheitsentstehung von großer Bedeutung sind“, so Lerche.
Die neue DFG-Forschergruppe will die Hypothese untersuchen, dass genetische Epilepsien auf einer Kombination von drei verschiedenen Faktoren beruht. „Zum einen haben wir es mit Genmutationen zu tun, die etwa Ionenkanäle in Nervenzellen beeinträchtigen und dadurch direkt die Erregbarkeit der Zellen verändern“, sagt Lerche. Daneben spielen die Entwicklungsfaktoren eine Rolle: „Während der Reifung des Gehirns im Säuglings- und Kindesalters werden Gene unterschiedlich stark ausgelesen. Manche von ihnen werden im Laufe der Zeit angeschaltet, andere aus. Ist dieser Prozess gestört, kann das zur Erkrankung führen.“
Ein dritter Faktor sind durch Genmutationen ausgelöste Prozesse, die etwa die Struktur von Nervenzellverbänden im Gehirn ändern und auf indirekte Weise die Entstehung von Epilepsie begünstigen. Mit den zukünftig gewonnenen Erkenntnissen wollen die Hirnforscher bessere Therapiemöglichkeiten entwickeln. „Unser Ziel ist, die kritischen Zeitfenster der verschiedenen genetischen Epilepsieformen zu identifizieren, in denen wir therapeutisch eingreifen können. Darüber hinaus möchten wir maßgeschneiderte Therapien für die unterschiedlichen Gendefekte entwickeln.“
Mareike Kardinal, Hertie-Institut für Klinische Hirnforschung
Kontakt
Prof. Dr. Holger Lerche
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
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<link>Holger.lerche@uni-tuebingen.de