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31.01.2024
Der Röntgenhimmel offenbart sich der Welt
Die Datenveröffentlichung der ersten eROSITA-Himmelsdurchmusterung macht den bisher größten Katalog von hochenergetischen kosmischen Quellen allen zugänglich – Universität Tübingen an Konsortium beteiligt
Das deutsche eROSITA-Konsortium, an dem das Institut für Astronomie und Astrophysik (IAAT) der Universität Tübingen beteiligt ist, hat heute die Daten seines Anteils an der ersten Himmelsdurchmusterung durch das abbildende Röntgenteleskop an Bord des Spektrum-RG (SRG)-Satelliten veröffentlicht. Der erste eROSITA-All-Sky-Survey-Katalog (eRASS1) ist mit rund 900.000 einzelnen Quellen die größte jemals veröffentlichte Sammlung an Röntgenquellen. Zusammen mit den Daten veröffentlichte das Konsortium heute eine Reihe von wissenschaftlichen Publikationen zu neuen Ergebnissen, die von Studien zur Bewohnbarkeit von Planeten bis zur Entdeckung der größten kosmischen Strukturen reichen. In den ersten sechs Monaten Beobachtungszeit hat eROSITA bereits mehr Quellen entdeckt, als in der 60-jährigen Geschichte der Röntgenastronomie bisher bekannt waren. Die Daten, die nun der weltweiten Wissenschaftsgemeinschaft zur Verfügung stehen, werden unser Wissen über das Universum bei hohen Energien revolutionieren.
Die eRASS1-Beobachtungen mit dem eROSITA-Teleskop wurden vom 12. Dezember 2019 bis zum 11. Juni 2020 durchgeführt. Im empfindlichsten Energiebereich der eROSITA-Detektoren (0,2-2 Kiloeletronenvolt, keV) entdeckte das Teleskop 170 Millionen Röntgenphotonen, für die die Kameras die ankommende Energie und Ankunftszeit genau messen können. Der Katalog wurde dann erstellt – nach sorgfältiger Verarbeitung und Kalibrierung –, indem Konzentrationen von Photonen am Himmel vor einem großflächigen, hellen und diffusen Hintergrund nachgewiesen wurden. Nach eRASS1 führte eROSITA die Durchmusterung des Himmels fort und erstellte etliche weitere vollständige Himmelsdurchmusterungen. Auch diese Daten werden in den kommenden Jahren der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht.
Der eRASS1-Katalog deckt die Hälfte des Röntgenhimmels ab und beinhaltet den Datenanteil des deutschen eROSITA-Konsortiums. Er umfasst mehr als 900.000 Quellen, von etwa 710.000 supermassereichen Schwarzen Löchern in fernen Galaxien (aktive galaktische Kerne) über 180.000 aktive Sterne in unserer eigenen Milchstraße bis hin zu 12.000 Galaxienhaufen und einer kleinen Anzahl anderer exotischer Quellen wie röntgenstrahlende Doppelsterne, Supernovaüberreste, Pulsare und andere Objekte. Das eROSITA-Teleskop hat somit in sechs Monaten mehr Quellen entdeckt als die großen Flaggschiff-Missionen XMM-Newton und Chandra in fast 25 Jahren.
Das IAAT ist eines der fünf zentralen Institute, die das Deutsche eROSITA-Konsortium bilden. „Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Durchmusterung, die von 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in zwölf Arbeitsgruppen erzielt und teilweise parallel zur Veröffentlichung der Daten publiziert wurden, sind von höchster Qualität, und helfen dabei, Licht ins Dunkel vieler Aspekte der Röntgenastrophysik zu bringen“, sagt Professor Andrea Santangelo, der Direktor des IAAT. Die Hochenergieastrophysik-(HEA)-Gruppe, die er leitet, hat zur Entwicklung der Mission beigetragen und beteiligt sich gemeinsam mit der Arbeitsgruppe Weltraumastrophysik (SBA) unter der Leitung von Professorin Beate Stelzer an der nationalen Forschungsgruppe eRO-STEP (FOR2990). Die Forschungsgruppe konzentriert sich auf die Untersuchung von Endpunkten der Sternentwicklung. Dies umfasst einen weiten Bereich von Objekten, von Weißen Zwergen mit kleinen Begleitern, sogenannten kataklysmischen veränderlichen Sternen, bis hin zu Supernovaüberresten.
„Ein Rätsel der Supernovaüberreste ist deren Rolle bei der Beschleunigung von kosmischen Strahlen in unserer Milchstraße“, sagt Dr. Gerd Pühlhofer von der HEA-Gruppe. „eROSITA verbessert in einigen Fällen substanziell die Möglichkeit, Supernovaüberreste zu untersuchen. Einige von diesen senden Gammastrahlen aus und gelten dadurch als potenzielle Beschleuniger kosmischer Strahlen. Aus den neuen Messungen ergeben sich starke Synergien mit Studien, die mit anderen, bodengebundenen Observatorien durchgeführt werden, an denen unsere Gruppe ebenfalls beteiligt ist.“ Außer zu Supernovaüberresten können die Explosionen von Sternen am Ende ihrer Lebensdauer zur Bildung von Neutronensternen, Schwarzen Löchern oder Weißen Zwergen führen. Diese unterschiedlichen kompakten Objekte sind entscheidend für das Verständnis der Sternentwicklung. „Wir versuchen, mehr von diesen extremen Objekten zu finden, um ihre Herkunft und ihre Beziehung zu normalen Sternen besser zu verstehen. Das ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen – wir erwarten nur einige Dutzend Neutronensterne und Schwarze Löcher unter Millionen von eROSITA-Quellen zu finden, und wir haben bereits einige gefunden“, sagt Dr. Victor Doroshenko aus der HEA-Gruppe und eROSTEP-Forschungsgruppe.
Die Gruppe von Professorin Stelzer untersucht neben kompakten Objekten auch sonnenähnliche Sterne sowie kleinere Objekte namens Braune Zwerge. „eROSITA ermöglicht es uns erstmals in der Geschichte, die Variabilität des Röntgenlichts der Sterne gleichzeitig mit Aufnahmen im sichtbaren Licht zu untersuchen“, sagt Beate Stelzer. „Wir entdecken außergewöhnliche Ausbrüche, die selten sind und nur identifiziert werden können, weil wir mit eROSITA so viele Sterne im Röntgenlicht sehen.“ Neben der Datenveröffentlichung sind heute mehrere wissenschaftliche Publikationen erschienen, bei denen Doktorandinnen und Doktoranden oder junge Forscherinnen und Forscher der Universität Tübingen jeweils die führenden Autorinnen und Autoren sind. Darunter ist auch die Publikation über stellare Helligkeitsausbrüche (siehe Abbildung 1).
Die erste eRASS-Datenveröffentlichung (DR1) umfasst nicht nur den Quellkatalog, sondern auch Bilder des Röntgenhimmels bei mehreren Photonenenergien und sogar Listen der einzelnen Photonen mit ihren Himmelspositionen, Energien und präzisen Ankunftszeiten. Die für die Analyse der eROSITA-Daten erforderliche Software ist ebenfalls in der Veröffentlichung enthalten. Für viele Quellenklassen wurden zusätzlich zu den Röntgeninformationen Messdaten aus anderen Wellenlängen in sogenannte Value-added-Kataloge aufgenommen.
„Das eROSITA-Konsortium leistet einen herausragenden Beitrag zur internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft sowohl in Bezug auf öffentlich zugängliche Daten als auch auf wissenschaftliche Ergebnisse", fügt Andrea Santangelo hinzu. „Wir sind zuversichtlich, dass der Rest der Welt das Beste aus dieser enormen Menge an Beobachtungsdaten machen wird.“
Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik und der Universität Tübingen
Abbildung 1: „Superflare“ auf einem roten Zwergstern. Der riesige Helligkeitsausbruch wurde von eROSITA im Röntgenlicht beobachtet und gleichzeitig im optischen Licht vom Transiting Exoplanet Survey Satellite (TESS) der NASA. Das Strahlungsmaximum wurde erst im optischen und dann im Röntgenlicht erreicht, und die abklingende Phase dauerte im Röntgenlicht länger. Diese Form der zeitlichen Entwicklung entspricht ähnlichen Beobachtungen auf unserer Sonne. Bei dem hier dargestellten Ereignis hat der Zwergstern jedoch das Hunderttausendfache an Energie eines Sonnenflares ausgestoßen.
Dieses Bild zeigt eine Hälfte des Röntgenhimmels, projiziert auf einen Kreis (sogenannte Zenit Equal Area Projektion) mit dem Zentrum der Milchstraße auf der linken Seite und der galaktischen Ebene in der Horizontalen. Die Photonen sind entsprechend ihrer Energie farbkodiert (rot für Energien von 0,3-0,6 keV, grün für 0,6-1 keV, blau für 1-2,3 keV).
Schwenk durch den eROSITA-Himmel
https://www.mpe.mpg.de/7991617/news20240131
Diese Animation nimmt Sie mit auf eine Reise durch den Röntgenhimmel, wie er von eROSITA gesehen wird. Die Röntgenbänder wurden entsprechend ihrer Energie farblich kodiert (rot für 0,3-0,6 keV, grün für 0,6-1 keV, blau für 1-2,3 keV) und eine Reihe markanter Quellen sind hervorgehoben.
Informationen zu eROSITA
eROSITA ist das Instrument für die weiche Röntgenstrahlung an Bord von Spektrum-RG (SRG), einer gemeinsamen russisch-deutschen Wissenschaftsmission, die von der Russischen Raumfahrtagentur Roskosmos im Interesse der Russischen Akademie der Wissenschaften, vertreten durch ihr Institut für Weltraumforschung (IKI), und der Deutschen Raumfahrtagentur im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) unterstützt wird. Die SRG-Raumsonde wurde von der Lavochkin Association (NPOL) und ihren Auftragnehmern gebaut und wird von NPOL mit Unterstützung des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik (MPE) betrieben. Das Teleskop wurde am 13. Juli 2019 an Bord der SRG-Mission ins All gebracht. Seine große Sammelfläche und sein weites Sichtfeld sind für eine tiefe Durchmusterung des gesamten Himmels im Röntgenbereich ausgelegt. Über sechs Monate hinweg (Dezember 2019 – Juni 2020) hat SRG/eROSITA die erste Durchmusterung des gesamten Himmels bei Energien von 0,2-8 keV abgeschlossen. Dies ist deutlich tiefer als die einzige bisher existierende Durchmusterung des gesamten Himmels mit einem Röntgenteleskop, die 1990 von ROSAT bei Energien von 0,1-2,4 keV durchgeführt wurde. Drei weitere vollständige Durchmusterungen des gesamten Himmels wurden zwischen Juni 2020 und Februar 2022 abgeschlossen.
Das deutsche eROSITA-Konsortium wird vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik (MPE) geleitet und umfasst die Dr. Karl Remeis-Sternwarte Bamberg, die Sternwarte der Universität Hamburg, das Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP) und das Institut für Astronomie und Astrophysik der Universität Tübingen, mit Unterstützung des DLR und der Max-Planck-Gesellschaft. Das Argelander-Institut für Astronomie der Universität Bonn und die Ludwig-Maximilians-Universität München sind als assoziierte Institute ebenfalls an der wissenschaftlichen Nutzung von eROSITA beteiligt. eROSITA-Daten werden mit dem vom deutschen eROSITA-Konsortium entwickelten Softwaresystem eSASS verarbeitet.
eROSITA wurde im Februar 2022 in den Safe Mode versetzt und hat den wissenschaftlichen Betrieb seither nicht wieder aufgenommen.
Publikationen
eRASS1-Katalog
Merloni et al.: The SRG/eROSITA all-sky survey, First X-ray catalogues and data release of the Western Galactic hemisphere
A&A volume 682, A34.
https://www.aanda.org/10.1051/0004-6361/202347165%20
Publikationen mit Erstautoren des IAAT:
https://arxiv.org/abs/2401.17287
https://arxiv.org/abs/2401.17292
https://arxiv.org/abs/2401.17298
https://arxiv.org/abs/2401.17311
https://arxiv.org/abs/2401.17312
eRASS1 Fakten und Zahlen:
- Beobachtungszeitraum: 12. Dezember 2019 - 11. Juni 2020
- Beobachtungstage: 184
- Beobachtungseffizienz (durchschnittlicher Anteil der Zeit, die das Teleskop mit der Datenerfassung verbracht hat): 96.5%
- Gesamtzahl der nachgewiesenen Einzelphotonen im Energiebereich von 0,2-2 keV: 170 Millionen [halber Himmel]
- Gesamtzahl der entdeckten Röntgenquellen: ~900k [halber Himmel]
- Gesamtzahl der entdeckten AGN (akkretierende supermassereiche schwarze Löcher): ~710k [halber Himmel]
- Gesamtzahl der entdeckten Sterne in der Milchstraße: ~180k [halber Himmel]
- Gesamtzahl der entdeckten Galaxienhaufen: ~12k [halber Himmel]
- Gesamtvolumen der wissenschaftlichen Daten, die vom Instrument zur Erde übertragen werden: 75 GB [ganzer Himmel]
- Deutsches eROSITA-Konsortium: ~250 Mitglieder (inkl. 80 Nachwuchswissenschaftler)
Kontakt:
Prof. Dr. Andrea Santangelo
Universität Tübingen
Institut für Astronomie & Astrophysik (IAAT)
Telefon +49 7071 29-76128
santangelospam prevention@astro.uni-tuebingen.de
Prof. Dr. Beate Stelzer
Universität Tübingen
Institut für Astronomie & Astrophysik (IAAT)
Telefon +49 7071 29-76132
stelzerspam prevention@astro.uni-tuebingen.de