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02.05.2016

Europäer mischten sich am Ende der Eiszeit mit Einwanderern aus dem Nahen Osten

Forscher schreiben die genetische Geschichte der Menschen in Europa neu – auch mithilfe von Proben aus den Höhlen der Schwäbischen Alb

Drei rund 31.000 Jahre alte Schädel aus Dolni Věstonice in der Tschechischen Republik. Alle in der Studie untersuchten Menschen, die in den darauf folgenden 5.000 Jahren lebten – sei es im heutigen Belgien, der Tschechischen Republik, Österreich oder Italien – waren eng verwandt. Dies deutet auf eine Ausbreitung der Menschen hin, die mit der archäologischen Kultur des Gravettien verbunden war. Foto und Copyright: Martin Frouz und Jiří Svoboda

Die einzige bis heute überlebende Menschenart, der anatomisch moderne Mensch, erreichte Europa erstmals vor rund 45.000 Jahren. Hier lebte er ununterbrochen bis heute – doch das ist nur ein Teil der Geschichte. Das verraten die Gene. Eine groß angelegte genetische Studie an Überresten von 51 Menschen, die vor 45.000 bis 7.000 Jahren lebten, ergab eine Reihe von überraschenden Befunden aus der komplexen Urgeschichte der Europäer. So muss es am Ende der Eiszeit vor rund 14.500 Jahren eine Wanderungsbewegung von Menschen aus dem Nahen Osten nach Europa gegeben haben, auf die bis vor kurzem jeglicher Hinweis fehlte. An der Studie war ein großes Forscherteam beteiligt, darunter eine Arbeitsgruppe von der Universität Tübingen unter der Leitung von Professor Johannes Krause, der auch Direktor am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena ist. Unter den untersuchten frühen Europäern waren sieben Individuen, deren Überreste aus Höhlen der Schwäbischen Alb stammen. Die Studienergebnisse wurden in der Zeitschrift Nature veröffentlicht.

„Das Klima hat immer wieder Einfluss auf das Überleben und die Wanderungsbewegungen der modernen Menschen genommen“, sagt Johannes Krause. In Europa lebten sie sogar während des letzten Kaltzeitmaximums vor 25.000 bis 19.000 Jahren, als große Teile des Kontinents von Eis bedeckt waren. Doch die Forscher wussten aus früheren Untersuchungen, dass das Überleben teilweise nur in einzelnen Refugien möglich war. Solche Zurückdrängung und Wiederausbreitung spiegelt sich in den Genen. Um mehr zu erfahren, analysierte das Forscherteam in der neuen Studie das gesamte Erbgut der 51 prähistorischen Menschen. „Solche umfassenden genomweiten Daten lagen bisher nur für einige wenige Menschen aus der Zeit von der ersten Besiedlung Europas bis zum Einsetzen der Landwirtschaft vor rund 8.500 Jahren vor“, erklärt Johannes Krause. Denn die Analyse alter DNA ist in mehrerer Hinsicht eine große Herausforderung. Zum einen ist das Erbgut aus Jahrtausende alten menschlichen Überresten stark zerfallen und muss aufwendig rekonstruiert werden, zum anderen ist es mit der DNA von Mikroorganismen und möglicherweise von heute lebenden Menschen verunreinigt. Nur mithilfe der in den letzten Jahren stark verbesserten Verfahren und bei sorgfältiger Zuordnung der Erbinformationen erhalten die Forscher belastbare Ergebnisse.

„Besonders überraschend war ein Befund, der die Urgeschichte revolutioniert: In der Warmzeit vor 14.500 Jahren erscheint eine neue genetische Komponente in Europa, deren Spur in den Nahen Osten führt“, sagt Cosimo Posth, der die schwäbischen Knochen im Rahmen seiner Doktorarbeit im Labor in Tübingen aufarbeitete. Die genetischen Neuerungen bei den Europäern hatten zuvor andere Wissenschaftler mit Bevölkerungsumwälzungen in Europa selbst erklärt. „Doch nun ist klar, dass Menschen aus dem Nahen Osten nach Europa eingewandert sind und so bei der Vermischung ein neuer Genpool entstand.“

Weiterhin ergaben die Analysen, dass die frühesten modernen Menschen in Europa nicht substanziell zur Genausstattung heutiger Europäer beitrugen. Wie bereits eine frühere Studie anhand der Mitochondrien-DNA gezeigt hatte, stammen alle Individuen, die zwischen 37.000 und 14.000 Jahren alt sind, von einer einzelnen Gründerpopulation ab, die auch die Vorfahren heutiger Europäer bilden. „Wir sehen aber auch eine Kontinuität zwischen den ersten modernen Menschen Europas, die vor 40.000 bis 32.000 Jahren die wunderbare Kunst der Schwäbischen Alb geschaffen haben, und den Bewohnern West- und Zentraleuropas nach der Eiszeit, vor 18.000 bis 14.500 Jahren“, erklärt Krause. Zwischendurch habe sich eine Population hineingemischt, bekannt als Mammutjäger Osteuropas, die aber durch die Eiszeit vor 23.000 bis 19.000 Jahren zurückgedrängt worden sei. Das komplexe Bild der Genetik europäischer Menschen wollen die Forscher im nächsten Schritt mit ähnlichen Genomanalysen von urgeschichtlichen Menschen aus Südosteuropa und dem Nahen Osten weiter vervollständigen.

Publikation:

Qiaomei Fu, Cosimo Posth, Mateja Hajdinjak, Martin Petr, Swapan Mallick, Daniel Fernandes, Anja Furtwängler, Wolfgang Haak, Matthias Meyer, Alissa Mittnik, Birgit Nickel, Alexander Peltzer, Nadin Rohland, Viviane Slon, Sahra Talamo, Iosif Lazaridis, Mark Lipson, Iain Mathieson, Stephan Schiffels, Pontus Skoglund, Anatoly P. Derevianko, Nikolai Drozdov, Vyacheslav Slavinsky, Alexander Tsybankov, Renata Grifoni Cremonesi, Francesco Mallegni, Bernard Gély, Eligio Vacca, Manuel R. González Morales, Lawrence G. Straus, Christine Neugebauer-Maresch, Maria Teschler-Nicola, Silviu Constantin, Oana Teodora Moldovan, Stefano Benazzi, Marco Peresani, Donato Coppola, Martina Lari, Stefano Ricci, Annamaria Ronchitelli, Frédérique Valentin, Corinne Thevenet, Kurt Wehrberger, Dan Grigorescu, Hélène Rougier, Isabelle Crevecoeur, Damien Flas, Patrick Semal, Marcello A. Mannino, Christophe Cupillard, Hervé Bocherens, Nicholas J. Conard, Katerina Harvati, Vyacheslav Moiseyev, Dorothée G. Drucker, Jiří Svoboda, Michael P. Richards, David Caramelli, Ron Pinhasi, Janet Kelso, Nick Patterson, Johannes Krause, Svante Pääbo and David Reich: The genetic history of Ice Age Europe. Nature, DOI 10.1038/nature17993, Online-Veröffentlichung am 2. Mai 2016.

Die Brillenhöhle westlich von Blaubeuren am Hang des Achtals: Hier wurden Überreste eines Menschen gefunden, der vor rund 15.000 Jahren gelebt hatte. Seine Daten gingen in die aktuelle Studie ein. Copyright: Alb-Donau-Kreis Tourismus
Aus dem Hohle Fels im Achtal nahe Schelklingen wurden rund 15.000 Jahre alte Überreste von zwei Individuen in die Studie einbezogen. Copyright: Alb-Donau-Kreis Tourismus
Rund 35.000 Jahre alter menschlicher Oberarmknochen, der in Goyet, Belgien, gefunden wurde. Von dieser Fundstelle stammen Überreste von insgesamt fünf Individuen, die in der Studie untersucht wurden. Der Knochen wurde einer bisher unbekannten großen Abstammungslinie zugeordnet, die weitgehend zurückgedrängt wurde, bevor sie beim Rückgang der Vereisung in Europa 15.000 Jahre später wieder auftauchte. Copyright: Royal Belgian Institute of Natural Sciences

Kontakt:

Prof. Dr. Johannes Krause
Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, Jena und
Universität Tübingen
Telefon +49 3641 686-600
johannes.krause[at]uni-tuebingen.de

Cosimo Posth
Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte
Telefon: +49 3641 686-622
posth[at]shh.mpg.de

Eberhard Karls Universität Tübingen
Hochschulkommunikation
Dr. Karl Guido Rijkhoek
Leitung
Janna Eberhardt
Forschungsredakteurin
Telefon +49 7071 29-77853
Telefax +49 7071 29-5566
janna.eberhardt[at]uni-tuebingen.de

www.uni-tuebingen.de/aktuelles

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