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05.08.2015

Neustart nach den Jahren des Nationalsozialismus

Als erste deutsche Hochschule konnte die Universität Tübingen am 20. August 1945 wieder mit dem Lehrbetrieb beginnen

Carlo Schmid mit seiner Sekretärin kurz nach Kriegsende. Der spätere SPD-Politiker hatte maßgeblichen Anteil an der Wiedereröffnung der Universität Tübingen im August 1945. Bildquelle: Universitätsarchiv Tübingen, unbekannter Fotograf.

Mit der Besetzung Deutschlands zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Universitäten landesweit geschlossen worden. Unmittelbar nach dem Einmarsch französischer Streitkräfte begannen in Tübingen die Bemühungen zur Wiedereröffnung der Universität. Am 20. August 1945 durften zunächst die beiden theologischen Fakultäten den Lehrbetrieb wieder aufnehmen. Damit war die Universität Tübingen die erste deutsche Hochschule, die nach Kriegsende ihre Hörsäle wieder öffnen konnte.

Der planmäßige Beginn des Lehrbetriebs im Sommersemester 1945 war durch den Einmarsch der französischen Truppen Mitte April verhindert worden. Prüfungen aller Art, einschließlich der Staatsexamina durften immerhin abgenommen und private Unterrichtsstunden in den Wohnungen der Dozenten erteilt werden. Auf Drängen seiner Kollegen legte der amtierende Rektor Otto Stickl, Direktor des Hygiene-Instituts, am 7. Mai sein Amt nieder. Nachdem die sechs Fakultäten neue Dekane gewählt hatten, tagten im Mai erstmals seit 1933 die Universitätsgremien wieder in ihrer traditionellen Zusammensetzung. In der ersten Sitzung des Großen Senats am 19. Mai wurde der neue Rektor Hermann Schneider als Kompromisskandidat durch Akklamation gewählt.

Anfang Juli 1945 rechnete Schneider noch mit der vollständigen Wiedereröffnung der Universität bereits im selben Monat. Vier Wochen später jedoch musste er im Kleinen Senat mitteilen, der neue französische Ortskommandant habe ihm lediglich eine teilweise Eröffnung in Aussicht gestellt. Wenige Tage später konnte Schneider den Dekanen gegenüber präzisieren, dass die beiden theologischen Fakultäten mit dem Unterricht beginnen könnten. Als Termin der Wiedereröffnung wurde daraufhin der 20. August vereinbart. Mit knapp 400 Studenten nahmen die beiden theologischen Fakultäten an diesem Tag den Lehrbetrieb wieder auf.

Knapp einen Monat später, am 17. September 1945, folgten die Universität Göttingen sowie die katholisch-theologische Fakultät der Universität Freiburg, am 24. September die Universität Marburg.

Die rasche Wiedereröffnung der Tübinger Universität überrascht im Rückblick, da die Traditionshochschule während der NS-Zeit durch besondere Linientreue aufgefallen war. Bereits vor 1933 war der nationalsozialistische und völkische Einfluss groß. Nach der Machtübernahme der Nazis war die Universität konsequent nach dem Führerprinzip organisiert worden. Der schnelle Neustart ist vor allem dadurch zu erklären, dass einflussreiche Vertreter der französischen Besatzungsmacht die Universität als zentrales Instrument ansahen, um den Südwesten Deutschlands in eine demokratische Zukunft zu führen. Die Militärregierung wollte die deutsche Jugend von der Straße holen und hoffte auf das Heranwachsen einer neuen, demokratisch eingestellten Generation. Konsequenterweise wurde ehemaligen Mitgliedern von SS und Waffen-SS, politisch belasteten, früheren Wehrmachtsoffizieren sowie Funktionären der NS-Nachwuchsorganisationen Hitlerjugend und Bund deutscher Mädel die Immatrikulation verweigert.

Maßgeblichen Anteil an der Wiedereröffnung der Universität im Sommer 1945 hatte der spätere SPD-Politiker Carlo Schmid. Schmid hatte in den 1920er Jahren in Tübingen Jura studiert und war vor der nationalsozialistischen Machtergreifung an der Universität als Privatdozent tätig gewesen. Der inzwischen 49-Jährige stellte sich bereits in den ersten Nachkriegstagen der französischen Besatzungsmacht als Übersetzer und Vermittler zur Verfügung. Schmid, Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter sowie im südfranzösischen Perpignan geboren, beherrschte die Sprache der Besatzungsmacht fließend und fand rasch das Vertrauen der Militärregierung.

Schon vor dem Einmarsch der Franzosen hatte er versucht, einen Rektoratswechsel in Gang zu setzen und bemühte sich sofort nach der Besetzung Tübingens um die Bildung eines „Arbeitsstabes“ unbelasteter Professoren und Universitätsangehöriger, der am 20. April erstmals zusammentrat. Auf Schmids Betreiben war zudem Mitte Mai von Seiten der Universität ein Ausschuss gebildet worden, der die Hochschule von allgemein bekannten Vertretern des Nationalsozialismus zu reinigen suchte, um so eine wichtige Vorbedingung für die Wiederaufnahme des akademischen Unterrichts zu erfüllen.

In einer ersten Entnazifizierungswelle wurden daraufhin rund 40 Mitglieder des Lehrkörpers der Universität des Dienstes enthoben. Bis September 1945 wurden nach Vorgaben der französischen Militärregierung alle 119 Hochschullehrer entlassen, die Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Unterorganisationen gewesen waren. In den folgenden Jahren gelang es allerdings einem Großteil dieser Hochschullehrer, an die Universität zurückzukehren.

Auch bei der Gestaltung des Neuanfangs war Carlo Schmid eine treibende Kraft. Der Jurist war im Juni von den Militärbehörden zum Landesdirektor für Kultus, Erziehung und Kunst ernannt worden. In dieser Position setzte er sich massiv dafür ein, politisch unbelastete, wissenschaftlich exzellente Gelehrte nach Tübingen zu holen. Dazu gehörten unter anderem der Theologe Romano Guardini, der Pädagoge Eduard Spranger und der Philosoph Wilhelm Weischedel.

Der französische Regierungschef Charles de Gaulle persönlich legte schließlich den Termin für die vollständige Wiedereröffnung der Universität Tübingen fest. Diese erfolgte im feierlichen Rahmen und in Anwesenheit zahlreicher französischer Beamte und Offiziere am 15. Oktober 1945 im Festsaal der Neuen Aula. Mit diesem Tag konnten dann auch alle übrigen Fakultäten den Lehrebetrieb wieder aufnehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich rund 3.300 Studierende in Tübingen immatrikuliert.

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