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15.11.2016
Aktive und inaktive Zellen in den Gedächtnisstrukturen des Gehirns identifiziert
Tübinger Neurowissenschaftler weisen erstmals unterschiedlichen Aufbau von Neuronen nach
Tübinger Neurowissenschaftlern ist es erstmals gelungen, aktive und inaktive Zellen im Gehirn morphologisch, also anhand ihres Aufbaus, zu unterscheiden. Bei einer Analyse von sogenannten Körnerzellen im Rattengehirn fanden sie dabei weitaus mehr inaktive als aktive Zellen.
Viele Dinge, die wir sicher zu wissen glauben, haben ihren Ursprung nicht in der Wissenschaft, sondern in der Populärkultur. Der verbreitetste Irrtum über das Gehirn ist wohl die Vorstellung, wir würden nur zehn Prozent unserer Gehirnkapazität verwenden. Der sogenannte “Zehn-Prozent-Mythos” ist unter Neurowissenschaftlern zwar verpönt, begegnet uns aber häufig in der Werbung, in Büchern, Kurzgeschichten und Filmen. Wie jeder Mythos enthält aber auch dieser einen wahren Kern: Viele Neurone bleiben den größten Teil des Lebens über inaktiv, selbst wenn unmittelbar benachbarte Zellen rege Aktivität zeigen.
Ein wichtiger Schritt zur Beantwortung der Frage, warum nur manche Neurone aktiv sind, gelang nun einem Wissenschaftlerteam um Dr. Andrea Burgalossi vom Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) der Universität Tübingen: Sie können die Zellen nun morphologisch, also in ihrem Aufbau, auseinanderhalten. Dazu machten die Forscher sogenannte juxtazelluläre Ableitungen der Nervenzellaktivität in freilaufenden Ratten. Bei dieser Technik liegen Elektroden zur Aufzeichnung direkt neben einzelnen, funktionierenden Neuronen in lebenden Organismen. Das erlaubt die Aufzeichnung von Aktionspotenzialen der Neurone, während diese arbeiten, und zugleich die Identifikation der so aufgezeichneten Zellen zur späteren Analyse.
Die Analyse dient dann zur Identifikation morphologischer Eigenschaften der Zellen, vor allem ihrer Dendriten, das sind Fortsätze, über die Signale von anderen Neuronen aufgenommen werden. Bei den untersuchten Zellen handelte es sich um Körnerzellen im Gyrus dentatus von Ratten. Schon länger ist bekannt, dass die Körnerzellen im Gyrus dentatus große Bedeutung für die Formierung einzelner Erinnerungen haben, z.B. von Orten und Individuen. Sie spielen daher eine zentrale Rolle bei Gedächtnisleistungen.
Die Forscher zeichneten Daten von insgesamt 190 Körnerzellen auf und fanden darunter nur 27 aktive Zellen (etwa 14 Prozent). Das scheint den “Zehn-Prozent-Mythos” zu erhärten, war von den Wissenschaftlern aber so erwartet worden: Der Gyrus dentatus ist eine Hirnstruktur, in der an jeder einzelnen Verarbeitungsleistung nur ein besonders kleiner Anteil der Neuronen einen Anteil hat, während die umliegenden Zellen sozusagen geduldig auf ihren Einsatz warten. Gedächtnisfunktionen sind im Gehirn nach einem Prinzip angelegt, das Neurowissenschaftler als “sparse coding” bezeichnen: sparsame Enkodierung. Eine vergleichsweise kleine Zahl Neuronen dient dabei zur Verschlüsselung einer komplexen Information. Möglicherweise hilft ein solches Prinzip, Überschneidungen zwischen verschiedenen Erinnerungen zu vermeiden.
In einer kleineren Untergruppe der untersuchten Zellen gingen die Forscher Korrelationen zwischen aktiver und passiver Funktion einerseits und der Morphologie der jeweiligen Zellen andererseits nach. Das Ergebnis: Aktive Körnerzellen verfügen über mehr und viel weiter verzweigte Dendriten. Sie erhalten also nicht nur Informationen von wesentlich mehr Neuronen, als es bei inaktiven Körnerzellen der Fall ist, sie haben auch eine Infrastruktur, die deutlich besser dazu geeignet ist, Signale zu empfangen und weiterzuleiten. Trotz der noch überschaubaren Zahl ihrer Stichprobe sind sich die Wissenschaftler sicher, dass sie aktive und inaktive Körnerzellen künftig mit hoher Zuverlässigkeit auf einen Blick auseinanderhalten können. Burgalossi, der die Forschergruppe leitet, ist vorsichtig optimistisch: “Es wird noch länger dauern, bis wir die Gründe kennen, warum manche Neurone aktiv sind und andere nicht. Aber diese direkte Verbindung zwischen Funktion und Morphologie, die wir jetzt gefunden haben, ist schon ein wichtiger Schritt. Den Nachweis für eine Kausalbeziehung zu finden, wird sicher noch schwierig. Aber wir sind auf der richtigen Spur.”
Publikation:
Maria Diamantaki, Markus Frey, Philipp Berens, Patricia Preston-Ferrer, Andrea Burgalossi: Sparse Activity of Identified Dentate Granule Cells during Spatial Exploration. eLife. 3 October 2016. pii: e20252. <link https: elifesciences.org content e20252>elifesciences.org/content/5/e20252
Autorenkontakt:
<link>andrea.burgalossi@cin.uni-tuebingen.de
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Das Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN) ist eine interdisziplinäre Institution an der Eberhard Karls Universität Tübingen, finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern. Ziel des CIN ist es, zu einem tieferen Verständnis von Hirnleistungen beizutragen und zu klären, wie Erkrankungen diese Leistungen beeinträchtigen. Das CIN wird von der Überzeugung geleitet, dass dieses Bemühen nur erfolgreich sein kann, wenn ein integrativer Ansatz gewählt wird.