Uni-Tübingen

12.03.2025

Per Kulturdenkmal durch die Vergangenheit

Interview mit Alumnus Dr. Jörg Widmaier vom Landesamt für Denkmalpflege

Dr. Jörg Widmaier

Herr Dr. Widmaier, was haben Sie an der Universität Tübingen studiert?

Kunstgeschichte, Geschichtswissenschaft und Archäologie. Im Anschluss an mein Studium habe ich am Graduiertenkolleg „Religiöses Wissen“ promoviert. Für meine Dissertation untersuchte ich, welche Botschaften die Bilder und Inschriften auf Taufbecken des 12. und 13. Jahrhunderts vermitteln.

Gibt es etwas aus Ihrer Studienzeit, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Der Geruch der Burse! Als ich das erste Mal die Burse betrat, bemerkte ich gleich diesen besonderen Geruch. Damals fand ich: Irgendwie muffig, der Geruch alter Teppiche gemischt mit dem jahrzehntealter Bücher. Als ich Jahre später an die Burse zurückkehrte, habe ich diesen Geruch sofort wieder wahrgenommen. Allerdings hatten sich meine Assoziationen verändert: Es roch nicht mehr muffig, vielmehr erinnerte mich der Geruch an interessante Gespräche, spannende Lehrveranstaltungen und lange Abende, an denen ich meine Referate vorbereitete.

Was machen Sie heute? 

Ich bin im Landesamt für Denkmalpflege, der Fachbehörde für Denkmalpflege in Baden-Württemberg, tätig. Das Amt ist für das gesamte Bundesland zuständig und organisatorisch dem Regierungspräsidium Stuttgart angegliedert. Hier leite ich das Fachgebiet „Inventarisation der Bau- und Kunstdenkmalpflege“.

Was beinhaltet Ihre Arbeit? 

Mein Team und ich führen sogenannte „Denkmalverzeichnisse“. Diese Verzeichnisse erfassen alle schutzwürdigen Kulturdenkmale in Baden-Württemberg.

Was fällt in die Kategorie „Kulturdenkmal“?

Ein Kulturdenkmal ist ein authentisch überliefertes Zeugnis der Geschichte. Das kann ein Bauwerk sein, ein Denkmal, ein Wegkreuz oder auch ein Brunnen.

Das baden-württembergische Denkmalschutzgesetz führt in § 2 aus, was Kulturdenkmale sind: „Kulturdenkmale […] sind Sachen, Sachgesamtheiten und Teile von Sachen, an deren Erhaltung aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse besteht.“

Welches Kulturdenkmal war für Sie als Student besonders wichtig? 

Eindeutig die Burse. Schon beim ersten Anblick beeindruckte mich die Größe des Gebäudes, die Breite und die Bedeutung, die es ausstrahlt. 2024 hatte ich die Gelegenheit, mit Studierenden meiner Lehrveranstaltung ins Dachwerk der Burse zu gehen. Diese Erfahrung war sehr spannend, da an diesem Ort Geschichte plötzlich greifbar wird.

Welche gesellschaftliche Bedeutung haben Kulturdenkmale? 

Sie machen historische Entwicklungen sichtbar, stiften Identifikation, bieten Reibungsfläche. Anders als beispielsweise Archivquellen, die in verschließbaren Räumen aufbewahrt werden, steht ein Kulturdenkmal im öffentlichen Raum und kann von allen betrachtet werden. Das heißt, die Möglichkeiten, sich mit dem Denkmal auseinanderzusetzen, sind vielfältiger. Nehmen wir Bauwerke aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhundert. Diese Gebäude bieten eine große Reibungsfläche, bis hin zur Diskussion, ob man sie stehen lassen oder abreißen soll.

Wie stiften Kulturdenkmale Identität? 

Ein gutes Beispiel dafür sind die Kirchenbauten der 1950er-Jahre. In der frühen Nachkriegszeit kamen viele vertriebene Menschen nach Deutschland, was die gesellschaftliche Struktur veränderte. Regionen, die zuvor stark evangelisch geprägt waren, bekamen beispielsweise eine wachsende katholische Bevölkerung. Dadurch entstand auch der Bedarf an neuen Kirchengebäuden. In dieser Zeit halfen die Gemeindemitglieder oft selbst beim Bau der Kirchen mit. Wenn nun heute eine Kirche umgenutzt oder verkauft werden soll, kann das großen Widerstand erzeugen, da sich viele Menschen stark mit dem Gebäude verbunden fühlen.

Wenn Sie in die Vergangenheit reisen könnten, welches Kulturdenkmal würden Sie gerne im Originalzustand sehen?

Kurzer Werbeblock für Kulturdenkmale: Kulturdenkmale sind authentische Zeugnisse und bieten Interessierten immer die Möglichkeit, in die Vergangenheit zu reisen! Wenn ich jedoch eine richtige Zeitreise unternehmen könnte, würde ich nach Aulendorf reisen und dort das Verlagsgebäude des Buchhändlers Josef Rieck besuchen. Dieser Ort wurde in der frühen Nachkriegszeit zu einem kulturellen Treffpunkt. Ich würde gerne die Personen treffen, die an der Entstehung des Bauwerks beteiligt waren, und diejenigen erleben, die dort darüber diskutierten, wie die neue Gesellschaft im Nachkriegsdeutschland aussehen sollte.

Wenn Sie ein Denkmal entwerfen könnten, wie würde es aussehen? 

Ich kann eher beschreiben, welche Wirkung es haben würde: Es wäre ein Objekt, das uns aufgrund seiner besonderen Qualitäten berührt, uns ermöglicht, uns mit ihm auseinanderzusetzen, und das eine positive Identifikation oder ein Abstoßen erzeugt.

Gibt es noch etwas, dass Sie gerne mit unseren Leserinnen und Lesern teilen möchten? 

Ich möchte Abiturientinnen und Abiturienten, die sich für Kunstgeschichte interessieren, ermutigen, dieses Fach zu studieren! Auch, wenn sie vielleicht zu hören bekommen, dass die Berufsaussichten schlecht aussehen. 

Das Interview führte Rebecca Ha

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