Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2019: Forschung
Der Herzschlag des Gletschers: Feldforschung in der Antarktis
Der Tübinger Geophysiker Reinhard Drews untersucht physikalische Prozesse an der Grenzfläche zwischen Eis und Ozean
Mehrfach war Dr. Reinhard Drews in der Antarktis, zuletzt im Oktober und November 2018 für sechs Wochen. Zentrale Fragestellung bei seinem aktuellen Projekt: Welche Auswirkungen hat das Heben und Senken der Eisschelfe durch die Gezeiten auf die Auslass-Gletscher an der Grenzlinie zwischen Eis und Ozean? Unter Eisschelfen versteht man große auf dem Meer schwimmende Eisplatten, die von Auslass-Gletschern gespeist werden und noch mit diesen verbunden sind. Die von Reinhard Drews untersuchten Auslass-Gletscher stehen also in Wechselwirkung mit dem Ozean. Maximilian von Platen hat den Tübinger Geophysiker interviewt.
Was möchten Sie bei dem Projekt „Kurzfristige Beschleunigung der antarktischen Auslassgletscher und die Verbindung zu den Meeresgezeiten“ herausfinden?
Für das aktuelle Projekt untersuchen wir die Auswirkungen der Gezeiten auf die Auslassgletscher in der Antarktis.
Das Grundprinzip der Antarktis ist: Im Zentrum fällt Schnee, verwandelt sich in Eis und fließt langsam in Richtung Küsten ab. Vor rund zehn Jahren war die vorherrschende These in der Forschung: wenn die Atmosphäre wärmer wird, kann sie mehr Feuchtigkeit aufnehmen. Dadurch schneit es mehr in der Antarktis, die Antarktis wächst. Heute wissen wir, dass gleichzeitig die Auslassgletscher in der Antarktis schneller fließen. Und dieser Effekt ist aktuell größer als die zunehmenden Schneefälle. Das heißt: die Massenbilanz der Antarktis ist negativ, in der Summe verliert sie Eis. Die Antarktis trägt damit zum Anstieg des Meeresspiegels bei.
An der Gründungslinie, also der Grenzfläche zwischen Eis und Ozean, existieren nicht nur Wechselwirkungen durch eine sich verändernde Atmosphäre, sondern auch durch variable Ozeanströmungen. Die Ozeanographen untersuchen, warum mehr warmes Wasser an der Gründungslinie ankommt. Wir Geologen kommen von der ‚Eisseite‘ und fragen: Was für eine Physik findet an der Gründungslinie statt? Welche Wechselwirkungen mit den Ozeanen spielen beim Masseverlust der Antarktis eine Rolle? Warum fließt das Eis an einigen Stellen in der Antarktis besonders schnell?
Momentan strömt vermehrt warmes Wasser zur Gründungslinie hin und es kommt an dieser Stelle zum starken Schmelzen des Eises, insbesondere im Westen der Antarktis. Dadurch verändert sich die Schelfeis-Geometrie, die Gründungslinie wandert landeinwärts und der Eisschild verkleinert sich. Schmelzen an der Gründungslinie durch warme Ozeanströmungen macht die Hälfte des Massenverlusts der Antarktis aus – die andere Hälfte des Masseverlustes geht auf das „Eisberg-Kalben“ zurück, wenn ein Eisberg an der Kante der Antarktis abbricht.Wir entwickeln Modelle, die diese physikalischen Zusammenhänge erklären können.
Welche Ansätze und Messtechniken setzen Sie bei Ihrem Projekt ein?
Wir haben mehrere GPS-Empfänger auf einem Auslassgletscher der Antarktis installiert und messen punktuell die Auswirkungen der Gezeiten auf dessen Fließgeschwindigkeit. Bodenradargeräte beobachten gleichzeitig die Eis-Fels-Grenzflächen: Dringt Wasser ein, kann das Heben und Senken der Eisschelfe durch Gezeiten als Pumpe wirken, die Wasser stromaufwärts saugt. Das modernste und interessanteste Instrument hat die Arbeitsgruppe Geodynamik von Professor Dr. Todd Ehlers an der Universität Tübingen für dieses Projekt bereitgestellt: ein terrestrisches Radarinterferometer (TRI) aus Schweizer Produktion. Mit diesem sehr sensitiven Gerät kann man jede Art von Bewegung messen, beispielsweise auch Verschiebungen an Felswänden, in Bergstollen oder Vulkanen. Es wird mit einem Stativ auf einem Fels fest montiert – also nicht auf Eis, weil dieses sich ständig bewegt. Es war nicht leicht, eine geeignete Stelle für das TRI zu finden, da die Antarktis zu 99 Prozent von Eis bedeckt ist. Hier haben unsere neuseeländischen Projektpartner vom Gateway Antarctica an der Canterbury University in Christchurch geholfen. Sie haben einen Bergrücken nahe der Gründungslinie eines Auslassgletschers identifiziert, auf dem wir das TRI installieren konnten.
Das TRI sendete von diesem Bergrücken kontinuierlich Radarwellen aus um die Gletscherbewegung in Abhängigkeit der Gezeiten (Tiden) zu messen. Vorteil gegenüber GPS: es wird nicht nur punktuell gemessen, sondern über die Fläche. 14 Tage lang wurde vom Gerät alle drei Minuten ein Bild gemacht. Jeden Tag gibt es zwei Mal Flut und zweimal Ebbe. Die aus den Messungen abgeleiteten Daten zeigen das Eisfließen stündlich, wir sehen hier sozusagen den Herzschlag des Gletschers. Wir haben auf dem Bergrücken rund 300 m über dem Gletscher auch campiert, bei Nachttemperaturen von bis zu minus 30 Grad, weil das Interferometer nicht vollkommen von alleine läuft. In der Nähe ist die Antarktis-Station Jang Bogo der Koreaner, die als Kooperationspartner ebenfalls an dem Projekt beteiligt sind.
Wie geht es weiter?
Die GPS-Geräte und Radar werden Ende Februar von unseren koreanischen Kooperationspartnern abgebaut. Außerdem ist noch vorgesehen, dass die Koreaner vom Hubschrauber aus die Eisdecken messen – wenn die Windverhältnisse es erlauben.
Dann können wir gemeinsam mit der Auswertung der Gesamt-Daten beginnen, sie wird voraussichtlich bis Ende 2020 dauern. Erste vorläufige Erkenntnisse unserer TRI-Messungen zeigen: Leichte Gezeitenunterschiede von nur wenigen Metern in der Vertikalen haben Auswirkungen auf die Dynamik des Auslassgletschers bis zu 30 Kilometern und mehr im Landesinneren. Gezeiten werden also sehr stark stromaufwärts kommuniziert – aber geht diese „Kommunikation“ über das Eis oder über die Eis-Felsbett-Grenzfläche? Hoffentlich finden wir am Ende der Prozessstudie eine Antwort auf diese Frage.
Welche Anwendungsbezüge hat Ihre Forschung?
Die Antarktis ist ein Kontinent im Süden, umgeben von Meer und bedeckt mit Eis. Im Gegensatz dazu ist der Nordpol ein Ozean, umgeben von Kontinenten. Und auch die Gletscher in Grönland oder den Alpen sind ganz unterschiedlich und verhalten sich in Modellen anders als die Antarktis.
Wir wollen wissen: Was bedeuten zwei Grad Erderwärmung in den nächsten 100 Jahren für die Antarktis? Wie stark wird der zu erwartende Anstieg des Meeresspiegels ausfallen? Wie wirkt sich das auf die globale Ozeanzirkulation aus? – Das ist für viele Regionen in Europa und auch weltweit eine ganz existenzielle Frage.
Video Science in Antarctica - a VR introduction to polar glaciology