Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2020: Leute
Ein Arzt, Wissenschaftler, Pionier und Visionär
Zum Tode von Professor Dr. Dr. h.c. Dietrich Niethammer ein Nachruf von Rupert Handgretinger
Am 3. Februar 2020 verstarb im Alter von 80 Jahren der ehemalige Direktor der Universitätskinderklinik Tübingen, Professor Dr. Dr. h.c. Dietrich Niethammer. Er war ein herausragender Vertreter der deutschen universitären Kinderheilkunde, dessen Lebenswerk gekennzeichnet ist einerseits durch große wissenschaftliche Erfolge im Bereich seiner engeren Fachdisziplin, der Hämatologie, Onkologie und Knochenmarkstransplantation, und andererseits durch sein Eintreten für eine ganzheitliche medizinische und psychosoziale Versorgung. Dies war sein zentrales Anliegen sowohl in der akademischen Pädiatrie als auch in der allgemeinen Pädiatrie, für die er sich berufs- und wissenschaftspolitisch in hohem Maße eingesetzt hat.
Niethammer absolvierte sein Medizinstudium in Wien, München und Tübingen. Es folgte ein Forschungsaufenthalt an der berühmten Sripps Clinic in San Diego, USA. Seine Ausbildung zum Kinderarzt begann 1972 in Ulm, wo er bereits als einer der ersten damit anfing, Kinder mit Krebserkrankungen zu behandeln. Zusätzlich baute er eine Station zur Behandlung von schweren angeborenen Immundefekten auf. Im Jahr 1975 führte er die in Deutschland ersten allogenen Knochenmarktransplantationen bei Kindern mit aplastischer Anämie durch. Er habilitierte sich 1977 und folgte 1978 einem Ruf auf die C3-Professur für pädiatrische Hämatologie und Onkologie an die Universitätskinderklinik Tübingen. In Tübingen baute er zusammen mit den internistischen Kollegen das Programm für Knochenmarktransplantation für Kinder und Erwachsene auf. Die Knochenmarktransplantation war damals noch in den Anfängen und Professor Niethammer hatte bereits zu dieser Zeit den Weitblick und die Vision, mit dieser Methode sehr vielen Kindern das Überleben ihrer Erkrankungen ermöglichen zu können. Im Jahr 1986 wurde er zum C4-Professor für Kinderheilkunde an der Universität Tübingen ernannt, wo er von 1986 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 ärztlicher Direktor der Abteilung für Allgemeine Pädiatrie und Hämatologie/Onkologie war. Zusätzlich war er von 1989 bis 2004 der geschäftsführende Direktor der Universitätskinderklinik Tübingen. Von 1986 bis 1987 bekleidete er das Amt des Prodekans und von 1987 bis 1988 das Amt des Dekans der Medizinischen Fakultät. Er war zudem maßgeblich für den Neubau der Kinderklinik auf dem Schnarrenberg verantwortlich.
Mit Dietrich Niethammer verlieren sowohl die deutsche als auch die internationale Kinderheilkunde und vor allem die Hämatologie/Onkologie einen Arzt und Forscher, der sich unermüdlich für das Wohl und die Gesundheit von Kindern eingesetzt hat. Sein weitreichender Blick und seine Visionen haben zu neuen Behandlungsmethoden bei kindlichen Krebserkrankungen geführt, die bis dahin als nicht behandelbar galten. Zahlreiche ehemalige Patienten verdanken ihm ihr Leben. Seine Forschungsarbeiten auf dem Gebiet kindlicher Krebserkrankungen waren und sind wegweisend für spätere Generationen von Ärzten und Forschern. Für Niethammer stand in all seinem wissenschaftlichen und ärztlichen Wirken das gesamte Behandlungs-und Forschungsteam im Vordergrund und er hat sich selber immer bescheiden zurückgenommen. Auch war für ihn die kollegiale Zusammenarbeit mit allen Fachdisziplinen von enormer Bedeutung und er hat nationale und internationale Netzwerke und Forschungsstrukturen aufgebaut. Er war langjähriger Sprecher der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie/Hämatologie (GPOH) und initiierte die Gründung der europäischen Arbeitsgruppe für Knochenmarktransplantation und Zelltherapie, die heutzutage wichtige Beiträge zur Optimierung dieser Behandlungsmethoden leistet.
Neben seinen vielfältigen klinisch-wissenschaftlichen Aufgaben nahm Dietrich Niethammer zahlreiche berufs- und wissenschaftliche Aufgaben wahr. Neben der Mitgliedschaft in der Ethikkommission der Bundesärztekammer war er auch Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinderheilkunde und Jugendmedizin und er war Mitglied des Gesundheitsrats des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Als Mitglied der Arbeitsgruppe Medizinischer Fakultäten in den Neuen Bundesländern des Wissenschaftsrats trug er maßgeblich zu dem erfolgreichen Aufbau der Universitätskinderkliniken in den Neuen Bundesländern bei, wofür er die Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald erhielt. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen wurde ihm für seine Lebensleistung 2005 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse und 2014 der Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg verliehen, und 2014 erhielt er für sein Lebenswerk die höchste Ehrung der deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, die Otto-Heubner-Medaille.
Professor Niethammer hatte sich während seiner gesamten Laufbahn neben seinem klinisch-wissenschaftlichen Wirken intensiv mit den ethischen Grundlagen ärztlichen Handelns beschäftigt. Er hatte früh erkannt, dass neben den schwer erkrankten Patienten auch die gesamte Familie in die Behandlung einbezogen werden muss. Er hat sich auch immer dafür eingesetzt, dass Kindern ein fundamentales Recht auf Offenheit zusteht, was die Prognose ihrer Erkrankung betrifft, selbst wenn es um Fragen nach dem Sterben geht. Er hat erkannt, dass unheilbar erkrankte Kinder Fragen nach dem Sterben verbal und auch nicht verbal stellen und dass das Behandlungsteam diesen Fragen nicht ausweichen darf. Er war Initiator des Tübinger Modells der „Integrierten Seelsorge“ und war Gründungssprecher der deutschen Psychosozialen Arbeitsgruppe Pädiatrische Onkologie/Hämatologie (PSAPOH) und war maßgeblich an der Etablierung von familiären Nachsorgekonzepten beteiligt, denen heutzutage eine wichtige Funktion in der Nachsorge nach schweren kindlichen Erkrankungen zukommt. Er hat die großen und kleinen Patienten immer auf gleicher Augenhöhe behandelt und war sich nicht zu schade, auch mal zu einem Kind unter den Tisch zu kriechen, welches sich vor ihm versteckt hatte und was bei seiner Größe von fast 2 Meter nicht ganz einfach war.
Niethammer war ein exzellenter, motivierender und freundschaftlicher Mentor, der angehende Ärzte und Forscher für sein Fach begeistern konnte. Seine Art zu führen, zu motivieren und sich für die Kinder einzusetzen war Vorbild für viele seiner Schüler, von denen heutzutage etliche Lehrstuhlinhaber oder in führenden Positionen an deutschen Universitätskinderkliniken sind. Dadurch hat er die universitäre pädiatrische Hämatologie/Onkologie maßgeblich mitgeprägt.
Mit Professor Niethammer verliert die Kinderheilkunde einen Kinderarzt, der sich unermüdlich für die Belange von Kindern eingesetzt hat. Alle Mitarbeiter der Universitätskinderklinik verlieren einen tollen ehemaligen hochgeachteten Chef, dem die Teamarbeit immer wichtig war und wo jeder im Team gleichermaßen von ihm respektiert wurde. Auch nach seiner Pensionierung hat er sich bis zu seinem unerwarteten Tode für die Tübinger Kinderklinik eingesetzt, und die Dietrich-Niethammer-Stiftung hat mit zahlreichen Projekten die Kinderklinik unterstützt. Wir werden immer seiner Verdienste um die Tübinger Kinderklinik gedenken und die Arbeit in seinem Sinne fortführen – gemäß seinem Grundsatz: „Es reicht nicht, die Kinder gesund zu machen, sondern wir müssen ihnen zum Leben verhelfen.“