Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2020: Forschung
Gerechtigkeit, Fairness und Transparenz: Grundzüge einer islamischen Geldtheorie
Dissertationspreis der Gesellschaft für Arabisches und Islamisches Recht für Dr. Abdelaali El Maghraoui
Dr. Abdelaali El Maghraoui vom Zentrum für Islamische Theologie (ZITh) der Universität Tübingen wurde für seine Dissertation „Geld im islamischen Recht: Die Grundzüge einer Geldtheorie nach der Rechtslogik ausgewählter klassisch-muslimischer Gelehrter“ mit dem Dissertationspreis 2020 der Gesellschaft für Arabisches und Islamisches Recht e.V. (GAIR) ausgezeichnet. Maximilian von Platen hat ihn interviewt.
Was ist das Thema Ihrer Dissertation?
Ich habe mich mit muslimischen Rechtsgelehrten aus der Zeit zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert befasst. Diese Zeit wird häufig auch als klassische Periode des islamischen Rechts bezeichnet. Die Entwicklung des islamischen Rechts auf der Ebene der Systematik hatte damals bereits ein hohes Maß an Reife erreicht. Das bedeutet: bei der Untersuchung meiner Quellen konnte ich in meiner Dissertation zu aussagekräftigen Ergebnissen kommen, was die Rechtsordnung und die Rolle von Wirtschaft und Geld betrifft.
Mein Ziel war es, eine übergreifende islamische Geldtheorie zu erarbeiten und zu analysieren, ob diese klassischen Ansätze auch für die heutige Zeit aktuell sein können.
Wie ist das Verhältnis von Theologie und islamischen Recht?
Islamisches Recht oder islamische Normenlehre ist eine Disziplin innerhalb der islamischen Theologie. Als solche beschäftigt sich islamisches Recht mit Methoden, die zur Ableitung von Normen führen: „Wie können aus dem Koran oder dem Hadith – den beiden wichtigsten Primärquellen des islamischen Rechts – Normen ableitet werden?“ Solche Normen können sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen oder auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch beziehen.
Auf welche Quellen stützt sich Ihre Arbeit?
Im Islam gibt es zwei Hauptrichtungen: die Sunniten und die Schiiten, wobei die Sunniten mit über 85 Prozent die mit Abstand größte Glaubensrichtung sind.
Innerhalb des Sunnitentums existieren vier klassische Rechtsschulen, an denen sich die Sunniten bis heute orientieren: die Hanafiten, die Malikiten, die Schafiiten und die Hanbaliten. Kennzeichnend für die Rechtsschulen sind Meinungsvielfalt und unterschiedliche Prägung der islamischen Tradition. Die Gelehrten, auf die diese Rechtsschulen zurückgehen, lebten alle im Zeitraum zwischen 699 und 855. Sie und ihre Schüler entwickelten Normen, basierend auf dem Koran und dem Hadith.
Ich habe mich auf bestimmte hanafitische, maliktische und schafiitische Rechtsgelehrte aus der klassischen Periode konzentriert. Die Hanbaliten werden dagegen in den Werken der von mir untersuchten Gelehrten nicht konsultiert, deswegen habe ich diese Rechtsschule für meine Arbeit nicht berücksichtigt.
Welchen Stellenwert haben Geld und Wirtschaft im Islam generell?
Der Beitrag des Korans und des Hadiths zur Wirtschaft(sordnung) ist zusammengefasst vor allem von moralisch-ethischer Funktion. Nur etwa zehn der insgesamt mehr als 6.000 Koran-Verse enthalten einen direkten wirtschaftlichen Bezug. Weder im Koran noch im Hadith wird Musliminnen und Muslimen detailliert vorgeschrieben, wie sie ihren Wirtschaftsalltag zu meistern haben. Die beiden Quellen schreiben keine bestimmte Wirtschafts- oder Geldordnung vor, sie rufen aber zu Gerechtigkeit, Fairness und Transparenz auf.
Was sind die Ergebnisse der Dissertation?
Ich bin zu einigen Ergebnissen gelangt, die vor allem für Fachexpertinnen und -experten von Bedeutung sein könnten. Einige davon möchte ich kurz vorstellen: Es gibt in den von mir untersuchten Quellen keine Kapitel mit der Überschrift „Geld“, sondern man muss zwischen den Zeilen lesen, um Aufschlüsse über die Wirtschaftstheorie und das Verständnis von Geld zu finden.
Im Koran steht, dass man bei Handelsgeschäften nicht betrogen werden darf. Was bedeutet das konkret für einen Kaufvertrag? Ab wann ist ein Kaufvertrag nicht gültig und ab wann liegt ein Betrug vor? Um diese Fragen zu beantworten haben die von mir studierten Gelehrten ihre eigene Gesellschaft als kontrollierende Instanz herangezogen. Das heißt: das, was die Gesellschaft als Betrug bezeichnete, wurde für das Recht übernommen.
Tauschverkehr als Friedensvertrag
Den Tauschverkehr verstanden die klassischen islamischen Gelehrten als „Friedensvertrag“, um den deutschen Soziologen und Philosophen Georg Simmel zu zitieren. Geld spielte dabei eine wichtige Rolle, da es den Tausch erleichterte. Die Erfindung des Geldes hat in diesem Sinne nach dem Verständnis des Islam eine Friedensfunktion, weil sie den Handel und somit den konfliktlosen Transfer von Eigentumsrechten an Ressourcen erleichtert.
Konkret wird im Koran in Sure 2:275 die sogenannte Riba kategorisch verboten. Es handelt sich bei Riba um eine vorislamische Handelspraxis, die für den Käufer bzw. Schuldner ausbeuterische Folgen haben und zur Schuldknechtschaft führen konnte. Daraus hat sich in der Moderne ein absolutes Zinsverbot im Islam entwickelt, was nicht zuletzt zur Etablierung von Islamic Finance beigetragen hat. Es handelt sich dabei um ein islamisches Finanzwesen, das in den 1970er-Jahren begründet wurde und inzwischen global operiert. Islamische Banken versuchen, konventionelle Finanzinstrumente durch zins- und spekulationsfreie Alternativen zu ersetzen.
Prinzip der Gewinn- und Verlustbeteiligung: die Kooperationsformen Sharika und Mudaraba
In meiner Dissertation habe ich mich außerdem mit den Kooperationsformen Sharika und Mudaraba beschäftigt. Beide gab es schon in vorislamischer Zeit, selbst der Prophet Mohammed soll vor seiner Berufung Fernhandel auf Basis dieser Kooperationsformen betrieben haben. Später haben die islamischen Rechtsgelehrten sie angepasst. Sowohl Sharika als auch Mudaraba basieren beide auf dem Prinzip der Gewinn- und Verlustbeteiligung und sollen Kapitalbesitzer und mittellose Know-how-Träger zusammenbringen.
Bei der Sharika handelt es sich um eine aktive Partnerschaft, beide Partner bringen Geld und Know-how mit ein und versuchen Gewinne zu erzielen, die nach festgelegtem Verhältnis verteilt werden. Auch die Verluste werden, nach Kapitalbeteiligung, gemeinsam getragen.
Dagegen gibt bei der Mudaraba ein Partner – heutzutage in der Regel die Bank – Geld. Der andere Partner versucht dies durch unternehmerische Fähigkeiten zu vermehren. Die Gewinne werden wie bei Sharika aufgeteilt. Aber im Verlustfall trägt die islamische Bank das Risiko komplett allein, deswegen spielt die Sharika in der Praxis islamischer Banken kaum eine Rolle.
Die klassischen muslimischen Gelehrten sahen in Sharika und Mudaraba ein passendes Instrument hierfür, dass nicht nur die, die Geld haben, vom Geld profitieren, sondern auch die, die über eine unternehmerische Idee oder Know-how verfügen.
Geld sollte nach dem islamischen Recht generell über seine Tauschfunktion hinaus als Instrument dienen, das von gesellschaftlicher und wachstumsfördernder Bedeutung ist. Es kommt nicht darauf an, das in sich nutzlose Geld zu haben, sondern der Nutzen des Geldes entfaltet sich dadurch, dass es im Umlauf gehalten wird.
Es hat mich bei meiner Untersuchung überrascht, dass die klassischen Gelehrten des Islam die Gesellschaft als Instanz zur Festlegung von Normen genommen haben. Einen solchen Ansatz wünsche ich mir auch von Muslimen in Deutschland und Europa, damit wir zeitgemäße Antworten auf aktuelle Fragen geben können.
Was ist der Unterschied der Rolle von Geld und Wirtschaftsrecht im Islam im Vergleich zur christlich geprägten Kultur des Westens?
Ich kenne mich mit der christlichen Wirtschaftsethik nicht so gut aus. Ich würde aber dennoch sagen, dass sich die beiden Ethiktraditionen für dieselben Werte einsetzen und von derselben Zielsetzung ausgehen. Auch in der christlichen Tradition hat Geld wie im Islam die Funktion dem Menschen zu dienen und nicht umgekehrt. Die Wege dahin mögen sich vielleicht unterscheiden, trotzdem kann ich mir an dieser Stelle gut eine interdisziplinäre und interreligiöse Zusammenarbeit vorstellen. Ich hoffe, dass meine Dissertation einen Beitrag hierzu leisten kann, um gemeinsam auch das Verbindende zu untersuchen. Wir sollten gemeinsam Ansätze für eine Wirtschaftsordnung finden, mit der sich alle Menschen identifizieren können – unabhängig von ihrer Weltanschauung und Religionszugehörigkeit. Gerade die Finanzkrise von 2007 hat die Notwendigkeit einer solchen Diskussion verdeutlicht.
Biographisches
Dr. Abdelaali El Maghraoui ist in einer marokkanischen Oasenstadt geboren und in Fes aufgewachsen, der drittgrößten Stadt des Landes. Nach dem Abitur kam er 2004 nach Deutschland, ein Zufall, wie er erzählt: „Ich habe an einer Infoveranstaltung des Goethe-Instituts in Fes für Schülerinnen und Schüler teilgenommen. Auf dieser Veranstaltung hat uns der damalige Direktor des Goetheinstituts Deutschland als Studienort schmackhaft gemacht. Ich bin also quasi ‚auf Einladung des Goetheinstituts‘ nach Deutschland gekommen.“ An der Universität Tübingen hat El Maghraoui Islamwissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Linguistik des Deutschen auf Magister studiert. Anschließend promovierte er 2018 in Tübingen am Lehrstuhl für Islamisches Recht am Zentrum für Islamische Theologie (ZITh). Derzeit arbeitet er dort als Post-doc im Rahmen des interdisziplinären Langzeitprojekts „Normativität des Korans im Zeichen gesellschaftlichen Wandels“ der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) an der Goethe Universität Frankfurt. Das AIWG-Projekt wird als Kooperation zwischen dem ZITh und der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt. Abdelaali El Maghraoui interessieren interdisziplinäre Forschungsansätze, die dem Zusammenhalt und der Kohärenz der Gesellschaft dienen. Dafür möchte er sich mit seiner wissenschaftlichen Arbeit auch zukünftig einsetzen.
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Koran und Hadith
Der Koran ist die Heilige Schrift des Islam und die wichtigste Quelle des islamischen Rechts. Das arabische Wort "Koran" bedeutet "Lesung", "Vortrag", "Rezitation". Nach islamischer Tradition gilt der Koran gilt als Wort Gottes. Der Prophet Mohammed empfing die Offenbarungen zwischen 610 und 632 nach Christus, nach seinem Tod und unter dem dritten Kalifen Uthman (gest. 656) wurden die einzelnen Offenbarungsaufzeichnungen zu einem Buch vollendend zusammengestellt. Der Koran besteht aus 114 Suren (Kapiteln), die unterschiedlich lang sind.
Der Hadith (Synonym: die Sunna) ist eine Sammlung von Taten, Aussprüchen und Vorschriften Mohammeds und der ersten vier Kalifen (Abu Bakr, Omar, Othman und Ali). Der Hadith ist nach dem Koran die zweite Quelle der islamischen Normenlehre und gibt Orientierung, wie man als Muslim leben soll.