Daryna „Dasha“ Kukhar ist 20 Jahre alt und stammt aus dem Dorf Wyssozk in der Westukraine. Sie studiert Germanistik auf Bachelor an der Universität Kyiv und ist im 6. Semester. Dasha ist eine von zwei Studierenden aus Kyiv, die bereits im Herbst 2021 ein Stipendium aus dem Erasmus+-Programm für Tübingen gewonnen haben. Alle anderen Studierenden aus der Ukraine sind nach dem Ausbruch des Krieges über ein Sonderkontingent an Studienplätzen nach Tübingen gekommen.
Dashas Heimatort ist 20 Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt. Als sie Kind war, konnte man die Grenze noch zu Fuß überqueren. Anfang April war es dort noch ruhig. Aber in einem 40 Kilometer entfernten Nachbardorf waren mehrere russische Raketen eingeschlagen, deswegen wurden alle Zivilisten evakuiert. Dasha selbst wurde bereits bei Kriegsausbruch von ihren Eltern nach Lviv geschickt, weil es dort sicherer war.
Eigentlich sollte Dasha am 1. April nach Tübingen kommen. Aber nach Ausbruch des Krieges machte Antonio Spinelli, Erasmus-Koordinator an der Universität Tübingen, ihr den Vorschlag, schon früher zu fahren. Eine schwierige Situation für Dasha, sie war hin- und hergerissen: „Ich habe das zunächst abgelehnt, weil ich bei meiner Familie bleiben und mein Land unterstützen, meine Heimat verteidigen wollte. Aber meine Mutter hat mich dann ermutigt: ‚Warum verzichtest Du auf diese Chance? Du hast dieses Stipendium gewonnen und es war immer Dein Traum, nach Deutschland zu gehen. Also geh‘ nach Deutschland, es ist kein Problem. Du bist kein Flüchtling, sondern eine Austauschstudentin!‘“
Am 26. März ist Dasha schließlich in Tübingen angekommen, ihre Anreise verlief reibungslos: Von Lviv konnte sie mit einem privaten Autobus direkt bis Stuttgart fahren, die Fahrt dauerte 26 Stunden. In Tübingen wurde sie von Dorothea Kies begrüßt, ebenfalls Erasmus-Koordinatorin der Universität, und zu ihrer Unterkunft gebracht. „Das erste Wochenende habe ich mit meinen Mitbewohnern im Leibniz-Haus verbracht. Wir haben gegrillt und uns viel unterhalten. Sie alle unterstützen mich und auch mein Heimatland sehr. Die meisten von ihnen sind berufstätig und etwas älter als ich. Ich erobere mir Tübingen aber auch alleine, gehe viel spazieren – ganz ohne Google Maps. Wenn ich es ohne Unterstützung zurück zum Leibniz-Haus schaffe, ist das für mich schon ein kleiner Erfolg“, sagt Dasha.
Und doch ist Dasha in Gedanken bei den Menschen in ihrer Heimat, und die Zweifel bleiben: „Momentan fühle ich mich wie eine junge Frau, die einen Fehler gemacht hat. Viele meine Kommilitonen an der Universität Kyiv stammen aus dem Donbass-Gebiet. Sie sind dorthin gegangen, nach Kramatorsk im Donezk-Gebiet und nach Luhansk, um zu kämpfen. Dort ist es sehr gefährlich. Auch viele junge Männer, die ich aus der Schule oder von der Uni kenne, kämpfen in der Armee oder als Freiwillige in der sogenannten Territorialverteidigung. Junge Frauen stellen Tarnnetze her oder kochen für die Soldaten. Andere Bekannte von mir übersetzen aktuelle Nachrichten ins Deutsche, Englische und andere Sprachen. Diese Informationen werden über Twitter, Facebook und andere Social-Media-Kanäle publiziert. Auch BILD oder DIE ZEIT haben solche Nachrichten schon auf Instagram veröffentlicht.“