Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2022: Studium und Lehre

„Ich bin überzeugt, dass der Krieg beendet wird und dann wird mein Land mich brauchen“

Die 20-jährige Daryna Kukhar hatte ihren Tübingen-Aufenthalt schon vor Ausbruch des Krieges geplant

Daryna „Dasha“ Kukhar ist 20 Jahre alt und stammt aus dem Dorf Wyssozk in der Westukraine. Sie studiert Germanistik auf Bachelor an der Universität Kyiv und ist im 6. Semester. Dasha ist eine von zwei Studierenden aus Kyiv, die bereits im Herbst 2021 ein Stipendium aus dem Erasmus+-Programm für Tübingen gewonnen haben. Alle anderen Studierenden aus der Ukraine sind nach dem Ausbruch des Krieges über ein Sonderkontingent an Studienplätzen nach Tübingen gekommen.

Dashas Heimatort ist 20 Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt. Als sie Kind war, konnte man die Grenze noch zu Fuß überqueren. Anfang April war es dort noch ruhig. Aber in einem 40 Kilometer entfernten Nachbardorf waren mehrere russische Raketen eingeschlagen, deswegen wurden alle Zivilisten evakuiert. Dasha selbst wurde bereits bei Kriegsausbruch von ihren Eltern nach Lviv geschickt, weil es dort sicherer war.

Eigentlich sollte Dasha am 1. April nach Tübingen kommen. Aber nach Ausbruch des Krieges machte Antonio Spinelli, Erasmus-Koordinator an der Universität Tübingen, ihr den Vorschlag, schon früher zu fahren. Eine schwierige Situation für Dasha, sie war hin- und hergerissen: „Ich habe das zunächst abgelehnt, weil ich bei meiner Familie bleiben und mein Land unterstützen, meine Heimat verteidigen wollte. Aber meine Mutter hat mich dann ermutigt: ‚Warum verzichtest Du auf diese Chance? Du hast dieses Stipendium gewonnen und es war immer Dein Traum, nach Deutschland zu gehen. Also geh‘ nach Deutschland, es ist kein Problem. Du bist kein Flüchtling, sondern eine Austauschstudentin!‘“

Am 26. März ist Dasha schließlich in Tübingen angekommen, ihre Anreise verlief reibungslos: Von Lviv konnte sie mit einem privaten Autobus direkt bis Stuttgart fahren, die Fahrt dauerte 26 Stunden. In Tübingen wurde sie von Dorothea Kies begrüßt, ebenfalls Erasmus-Koordinatorin der Universität, und zu ihrer Unterkunft gebracht. „Das erste Wochenende habe ich mit meinen Mitbewohnern im Leibniz-Haus verbracht. Wir haben gegrillt und uns viel unterhalten. Sie alle unterstützen mich und auch mein Heimatland sehr. Die meisten von ihnen sind berufstätig und etwas älter als ich. Ich erobere mir Tübingen aber auch alleine, gehe viel spazieren – ganz ohne Google Maps. Wenn ich es ohne Unterstützung zurück zum Leibniz-Haus schaffe, ist das für mich schon ein kleiner Erfolg“, sagt Dasha.

Und doch ist Dasha in Gedanken bei den Menschen in ihrer Heimat, und die Zweifel bleiben: „Momentan fühle ich mich wie eine junge Frau, die einen Fehler gemacht hat. Viele meine Kommilitonen an der Universität Kyiv stammen aus dem Donbass-Gebiet. Sie sind dorthin gegangen, nach Kramatorsk im Donezk-Gebiet und nach Luhansk, um zu kämpfen. Dort ist es sehr gefährlich. Auch viele junge Männer, die ich aus der Schule oder von der Uni kenne, kämpfen in der Armee oder als Freiwillige in der sogenannten Territorialverteidigung. Junge Frauen stellen Tarnnetze her oder kochen für die Soldaten. Andere Bekannte von mir übersetzen aktuelle Nachrichten ins Deutsche, Englische und andere Sprachen. Diese Informationen werden über Twitter, Facebook und andere Social-Media-Kanäle publiziert. Auch BILD oder DIE ZEIT haben solche Nachrichten schon auf Instagram veröffentlicht.“

Du bist kein Flüchtling, sondern eine Austauschstudentin!‘

Die Mutter ermutigte Dasha

Die 20-Jährige hat sich schon immer sehr für Sprachen interessiert und bereits in der Schule ein Jahr Deutsch gelernt. Jetzt ist sie zum ersten Mal in Deutschland. „Ich hatte schon lange den Wunsch, nach Deutschland zu kommen, aber ich wollte nicht einfach nur als Touristin zum Urlaub kommen, sondern mein Ziel war es, hier zu leben und zu studieren. Ich habe mich gezielt für die Universität Tübingen beworben und habe schon Einiges über die Universität und ihre Namensgeber Graf Eberhard und Herzog Karl Eugen gelesen“, erzählt Dasha.

„In Tübingen werde ich Kurse in Neuerer Deutscher Literatur, aber auch Spanisch-, Englisch- und natürlich Deutsch-Kurse belegen. Ich interessiere mich für deutsche Landeskunde und habe viel über deutsche Politik und Angela Merkel gelesen - über sie habe ich auch meine Kursarbeit geschrieben. Und ich möchte die deutsche Kultur so gut wie möglich kennen lernen, möchte moderne deutsche Autoren lesen, richtig verstehen und analysieren können“, sagt die junge Ukrainerin.

Natürlich will sie auch ihre Deutschkenntnisse verbessern: „Wenn jemand gutes Hochdeutsch spricht, klingt das für mich wunderschön. Ich bin stolz, dass ich mittlerweile für Deutsch das Niveau C1 erreicht habe. Allerdings ist das Sprachniveau in Deutschland höher als in der Ukraine: Mein Englisch-Niveau ist in der Ukraine B2, aber nach deutschen Maßstäben entspricht es nur B1. Im Spanischen habe ich das Niveau A2 erreicht. Ich möchte in Tübingen mein Deutsch perfektionieren. Ich möchte Deutsch frei sprechen können, ohne nachzudenken, ohne Fehler zu machen und mit einer korrekten Aussprache. Mein Wunsch: Ich möchte am Ende meines Aufenthalts nicht mehr gefragt werde, woher ich komme.“

Ich möchte mein Deutsch so verbessern, dass ich am Ende meines Aufenthalts nicht mehr gefragt werde, woher ich komme.

Ehrgeizige Ziele

Und dann gibt es noch eine andere Leidenschaft bei Dasha – den Sport: „Neben dem regulären Stundenplan möchte ich gerne in Tübingen Basketball spielen. In der Ukraine spiele ich bereits seit zehn Jahren Basketball, früher sogar auf professionellem Niveau. In Tübingen will ich aber vor allem spielen, um Spaß zu haben, fit zu bleiben und um neue Leute kennenzulernen.“

Für die herzliche Aufnahme und die gute Betreuung ist sie sehr dankbar: „Ich fühle mich in Tübingen sehr geborgen. Wenn ich Hilfe brauche, muss ich nur ein paar Sätze schreiben oder anrufen, und sofort bekomme ich Unterstützung.“

Länger in Tübingen zu bleiben ist für Dasha Kukhar momentan keine Option: „Ich möchte jetzt das Sommersemester in Tübingen verbringen und dann in die Ukraine zurückkehren – auch wenn der Krieg noch nicht zu Ende sein wird. Ich werde in der Ukraine online weiterstudieren und meinen Bachelor-Abschluss machen. Parallel dazu möchte ich bereits als Simultandolmetscherin arbeiten. Ich bin überzeugt, dass der Krieg beendet wird und dann wird mein Land viele Dolmetscher brauchen – um das Land wiederaufzubauen und die Wirtschaft anzukurbeln“, beschreibt Dasha ihre Träume. 

Das Interview führte Maximilian von Platen