Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2022: Leute
Streitbar, menschlich und rastlos produktiv
Zum Tode von Professor Dr. Michael Arnold ein Nachruf von Dominik Graf von Stillfried
Professor Dr. Dr. h.c. Michael Martin Arnold ist nach langer Krankheit am 19. Mai 2022 im Alter von 93 Jahren gestorben. In seinem ersten Berufsleben war er Anatom, im zweiten ein Pionier der Gesundheitssystemforschung in Deutschland.
Nach Kriegsgefangenschaft studierte er Medizin in Göttingen, Freiburg und an der Medizinischen Akademie Düsseldorf. Über das Max-Planck-Institut in Göttingen und das Institut für Anatomie der Justus-Liebig-Universität Gießen kam er 1962 ans Anatomische Institut der Universität Tübingen, wo er 1967 zum außerplanmäßigen und 1971 zum ordentlichen Professor ernannt wurde.
Von 1984 bis 1990 war er geschäftsführender Direktor des Anatomischen Instituts bis er 1990 eine vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft für fünf Jahre geförderte Stiftungsprofessur für Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen übernahm.
Er ging diese neue Aufgabe mit herausragendem Elan und dem Blick für die notwendige Interdisziplinarität an, um Entstehung, Funktionieren und Verbesserungspotenzial in den Gesundheitssystemen der Industrieländer erschließen zu können. Dabei zog er sich keineswegs auf abstrakte, rein akademische Fragen zurück. Vielmehr stellte er sich laufend dem Praxischeck der Diskussion mit den im Gesundheitswesen Tätigen in der medizinischen Versorgung, in der Selbstverwaltung und in der Gesundheitspolitik. Qualifiziert für die Leitung der Stiftungsprofessur hatte er sich durch seine Tätigkeit als Baubeauftragter des Verwaltungsrates der Universität Tübingen für den Bereich der Medizin und im wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer, wo er sich zahlreichen Fragen zur Struktur der Medizinerausbildung und der medizinischen Versorgung widmete. Im Jahr 1986 wurde Michael Arnold in den neu gegründeten Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen berufen; von 1988 bis 1992 war er dessen Vorsitzender. Er gehörte auch der von Professor Dr. Dr. Kurt Kochsiek geleiteten Expertenkommission für die Neuordnung der Hochschulmedizin in Berlin an, der die Charité zu einem nicht unerheblichen Teil ihre heutige Stärke verdankt. Er war Mitglied in Kommissionen zur Reform des Medizinstudiums, mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung auf der Suche nach dem Arztbild der Zukunft, Vorsitzender des 1989 von der Landesregierung Vorarlberg eingerichteten medizinisch-wissenschaftlichen Beirates für das Geriatrie-Konzept Vorarlberg, sowie ein vielgesuchter Berater der Entscheidungsträger im Gesundheitswesen.
Für seine Arbeit und sein Engagement wurden ihm viele Ehrenzeichen verliehen. Im Jahr 1996 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Humboldt Universität zu Berlin, 1997 die Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft.
Den Kontakt zu Wissenschaft und Praxis suchte er nicht nur in Deutschland. In rastloser Produktivität absolvierte er zahlreiche Studienreisen in die Gesundheitssysteme der meisten Industrieländer, deren Ergebnisse er in atemberaubender Geschwindigkeit in Berichten und zahllosen Vorträgen druckreif per Diktat niederlegte und ein weltweit verzweigtes Netzwerk Gleichgesinnter anlegte. Dabei zeichnete ihn aus, mit klarem Blick seiner Neugier zu folgen und Erkenntnisse auch als solche zu verteidigen, wenn sie zunächst in scheinbarem Wiederspruch zu geltenden Theoremen oder Konventionen standen. Damit galt er als unterhaltsamer und streitbarer Redner, der sich keiner inhaltlichen Auseinandersetzung unter Verweis auf seinen Status, Erfahrung o.ä. entzog. Die heutigen Möglichkeiten digitaler Wissenschaftskommunikation hätte er virtuos genutzt.
So aber lebt das Erbe in den damaligen Mitarbeitern fort, denen er stets ein väterlicher Freund, kritischer Reviewer, fürsorglicher Doktorvater und Lehrmeister in Sachen Menschlichkeit war, obwohl er neue Mitarbeiter schon mal verunsichern konnte: „Bei mir lernen Sie schwimmen – oder Sie gehen unter“. Schwimmen haben wir alle mit ihm gelernt, die in fünf Jahren Stiftungsprofessur in Tübingen zusammengekommen sind. Wir trauern um eine herausragende Persönlichkeit, mit Dank und in ehrendem Gedenken.