Hat Sie die Verantwortung, zu so gewichtigen Themen konkrete Empfehlungen abzugeben, belastet oder gereizt?
FJB: Beides. Die Arbeit ist nicht immer vergnügungssteuerpflichtig. Sie kostet viel Zeit. Ich hatte teilweise wöchentlich eine Sitzung in Berlin oder anderswo und war stark eingebunden beim Verfassen der Stellungnahmen. Auf der anderen Seite habe ich glückliche Erinnerungen an eine trans- und interdisziplinäre Zusammenarbeit, die ich in der Dichte noch nie zuvor erlebt hatte. Der Expertenrat ist ein multiprofessionelles Expertengremium von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaftlern. Es sind Kooperationen über Fachgrenzen hinweg entstanden und über den Rat hinaus.
Bekommt der Deutsche Ethikrat mit seiner Expertise denn überhaupt die nötige Aufmerksamkeit?
FJB: Es gibt einen Dschungel an Beratungsinfrastruktur in Deutschland. Die Konkurrenz schwächt die Wirkung der Empfehlungen. Zum Beispiel haben jüngst drei Bundesministerien – das für Familie, für Justiz und für Gesundheit – eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die über die Zukunft des Paragraphen 218 StGB in Deutschland beraten sollte. Abtreibung ist nun zweifellos ein Thema, das in den Zuständigkeitsbereich des Deutschen Ethikrats fällt, der dafür gegründet wurde, Politik und Öffentlichkeit in lebenswissenschaftlichen und medizinethischen Fragestellungen zu beraten. Die genannten Ministerien wollten aber aus politischen Gründen bestimmte Ergebnisse sehen. So eine Konkurrenz mit Kalkül schwächt natürlich die Wirkung des Deutschen Ethikrats und sollte nicht sein. Ein anderes Problem ist, dass sich der Rat mit Themen befasst, für die er nicht installiert worden ist, zum Beispiel mit der Klimagerechtigkeit. Dabei gibt es im Gesundheitsbereich so viele drängende Probleme, die in seine originäre Zuständigkeit fallen.
Welche?
FJB: Wir sind eine alternde Gesellschaft und laufen auf immer höhere Gesundheitskosten zu. Auch im Pflegebereich gibt es viele Probleme. Die Pflegeversicherung ist völlig unterfinanziert und bedarf grundlegender Reformen. Wir laufen mit Ansage auf einen totalen Kollaps unseres Pflegesystems in den nächsten Jahren zu. Ich würde der neuen Ratsperiode dringend raten, diese strukturellen Probleme aufzugreifen.
Wirken Impulse von so einem Beratergremium zurück in die Wissenschaft?
FJB: Zu wenig. Da werden häufig Chancen verpasst. 2013, also noch vor meiner Zeit, hat der Deutsche Ethikrat eine sehr gute Stellungnahme über die Frage der genetischen Diagnostik verfasst und darin viele Entwicklungen vorausgehen. Es werden ja immer mehr genetische Marker und damit Erbkrankheiten identifiziert. Das hat dramatische Auswirkungen. Viele Föten erblicken durch die neuen technologischen Möglichkeiten nie das Licht der Welt. Das sind verdeckt eugenische Dynamiken. Wir Deutsche sollten ja eigentlich aufgrund unserer Erfahrung im Nationalsozialismus besonders sensibel bei dem Thema sein. Der Deutsche Ethikrat hat Empfehlungen zum Schutz ungeborenen Lebens an den Gesetzgeber und auch an die wissenschaftliche Forschung formuliert. Entsprechende Forschungsprojekte wurden aber nicht bewilligt. Für die gibt es kein Geld. Aus meiner Sicht ist das ein forschungspolitischer Skandal.
Sie sind also gegen Pränataldiagnostik?
FJB: Ich bin nicht generell dagegen. Pränataldiagnostik kann positive Effekte haben, wenn sie mit therapeutischen Möglichkeiten verbunden ist. Aber wir diagnostizieren immer häufiger ohne eine therapeutische Konsequenz – was im Ergebnis zu einem Abbruchautomatismus nach fragwürdigen Kriterien führt. Der Lebenswert wird hier beurteilt – auch wenn das rechtlich ein bisschen anders verklausuliert wird. Wir sagen nichts über den Lebenswert des Kindes, sondern nur über die Zumutbarkeit dieses Kindes für die Mutter.
Für wie wirksam halten Sie die Stellungnahmen, an denen Sie selbst mitgeschrieben haben?
FJB: Es gibt Beispiele, bei denen der Gesetzgeber die Empfehlung des Ethikrates komplett ignoriert hat, wie in der Pränataldiagnostik. Und es gibt Beispiele, wo die Empfehlungen eins zu eins umgesetzt worden sind, wie für die Impfstrategie. Zusammenfassend würde ich sagen: Die Wirksamkeit rangiert zwischen 0 und 100.