Uni-Tübingen

Ethik im Praxistest

Der Deutsche Ethikrat berät Politik und Öffentlichkeit bei heiklen Themen, von Impfstrategie bis Pränataldiagnostik. Der Tübinger Moraltheologe Professor Franz-Josef Bormann hat acht Jahre lange die Stellungnahmen des Rats mitgeprägt, bis zum Ende seiner Amtszeit im April. Eine Bilanz.

Bei welchem Thema war der Deutsche Ethikrat in Ihrer Zeit besonders gefragt?
Franz-Josef Bormann: Die größte öffentliche Wahrnehmung hat der Ethikrat zweifellos in den Jahren der Corona-Pandemie gewonnen. In den Jahren von 2020 bis 2022 haben wir sieben Stellungnahmen zur Bewältigung der Pandemie abgegeben, im Auftrag entweder des Gesundheitsministers oder anderer Ministerien. Wir haben auch erstmalig mit der Leopoldina und dem Robert Koch-Institut gemeinsam ein Papier zur Impfstrategie verfasst. Darin wurde sehr konkret vorgeschlagen, in welcher Reihenfolge Personen Zugang zum Impfstoff haben sollten, der anfangs ja knapp war. 

Und dann kam die Diskussion zur Impfpflicht … 
FJB: Wir haben eine Stellungnahme zur bereichsbezogenen Impfpflicht geschrieben. Es ging um die Frage: Ist Gesundheitspersonal in Krankenhäusern und Altenpflegeeinrichtungen in besonderer Weise moralisch verpflichtet, sich impfen zu lassen? Der Ethikrat war in diesem Fall ohne Gegenstimme der Überzeugung, dass sich eine bereichsbezogene Impfpflicht ethisch gut begründen lässt.

In der Öffentlichkeit wurde das Thema sehr kontrovers diskutiert. 
FJB: Unter Ethikern nicht. Der Ethikrat hat sich schon 2019 vor der Pandemie mit diesem Thema im Zusammenhang mit der Masernschutzimpfung beschäftigt, bei der die Impfquoten rückläufig waren und sind. Kinder können durch eine Maserninfektion sterben. Wir haben uns gefragt, ob dann beispielsweise Lehrkräfte an Schulen nicht eine Verpflichtung zu einer Masernschutzimpfung haben sollten. 

Die Stellungnahmen sind nicht immer so einmütig, oder? 
FJB: Nein. Das haben wir bei der Diskussion zu einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht gesehen. Da gab es eine kleinere Gruppe von sieben Personen, zu der auch ich gehörte, die sich zwar grundsätzlich für eine Ausweitung der Impfpflicht ausgesprochen hat, sie aber auf eine ganz bestimmte Personengruppe mit hohem Risiko beschränkt wissen wollte. Die Intensivstationen füllten sich gegen Ende des Jahres 2021. Vor allem ältere Personen mussten nach einer Infektion mit einem schweren bis tödlichen Verlauf ihrer Erkrankung rechnen. Wir haben argumentiert, dass solchen Risikogruppen eine Impfpflicht zuzumuten ist, damit andere Risikogruppen eine Chance auf ein Intensivbett behielten – zum Beispiel Menschen, die bereits einen Herzinfarkt gehabt hatten oder unter anderen Erkrankungen litten. Das sah aber die Mehrheit des Ethikrates anders. 13 Personen haben sich sogar für eine generelle allgemeine Impfpflicht für alle volljährigen Personen ausgesprochen. Manche wollten sogar eine Impfpflicht für Kinder. Das kann man sich heute kaum mehr vorstellen.

Hat Sie die Verantwortung, zu so gewichtigen Themen konkrete Empfehlungen abzugeben, belastet oder gereizt?
FJB: Beides. Die Arbeit ist nicht immer vergnügungssteuerpflichtig. Sie kostet viel Zeit. Ich hatte teilweise wöchentlich eine Sitzung in Berlin oder anderswo und war stark eingebunden beim Verfassen der Stellungnahmen. Auf der anderen Seite habe ich glückliche Erinnerungen an eine trans- und interdisziplinäre Zusammenarbeit, die ich in der Dichte noch nie zuvor erlebt hatte. Der Expertenrat ist ein multiprofessionelles Expertengremium von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaftlern. Es sind Kooperationen über Fachgrenzen hinweg entstanden und über den Rat hinaus. 

Bekommt der Deutsche Ethikrat mit seiner Expertise denn überhaupt die nötige Aufmerksamkeit? 
FJB: Es gibt einen Dschungel an Beratungsinfrastruktur in Deutschland. Die Konkurrenz schwächt die Wirkung der Empfehlungen. Zum Beispiel haben jüngst drei Bundesministerien – das für Familie, für Justiz und für Gesundheit – eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die über die Zukunft des Paragraphen 218 StGB in Deutschland beraten sollte. Abtreibung ist nun zweifellos ein Thema, das in den Zuständigkeitsbereich des Deutschen Ethikrats fällt, der dafür gegründet wurde, Politik und Öffentlichkeit in lebenswissenschaftlichen und medizinethischen Fragestellungen zu beraten. Die genannten Ministerien wollten aber aus politischen Gründen bestimmte Ergebnisse sehen. So eine Konkurrenz mit Kalkül schwächt natürlich die Wirkung des Deutschen Ethikrats und sollte nicht sein. Ein anderes Problem ist, dass sich der Rat mit Themen befasst, für die er nicht installiert worden ist, zum Beispiel mit der Klimagerechtigkeit. Dabei gibt es im Gesundheitsbereich so viele drängende Probleme, die in seine originäre Zuständigkeit fallen.

Welche?
FJB: Wir sind eine alternde Gesellschaft und laufen auf immer höhere Gesundheitskosten zu. Auch im Pflegebereich gibt es viele Probleme. Die Pflegeversicherung ist völlig unterfinanziert und bedarf grundlegender Reformen. Wir laufen mit Ansage auf einen totalen Kollaps unseres Pflegesystems in den nächsten Jahren zu. Ich würde der neuen Ratsperiode dringend raten, diese strukturellen Probleme aufzugreifen.

Wirken Impulse von so einem Beratergremium zurück in die Wissenschaft?
FJB: Zu wenig. Da werden häufig Chancen verpasst. 2013, also noch vor meiner Zeit, hat der Deutsche Ethikrat eine sehr gute Stellungnahme über die Frage der genetischen Diagnostik verfasst und darin viele Entwicklungen vorausgehen. Es werden ja immer mehr genetische Marker und damit Erbkrankheiten identifiziert. Das hat dramatische Auswirkungen. Viele Föten erblicken durch die neuen technologischen Möglichkeiten nie das Licht der Welt. Das sind verdeckt eugenische Dynamiken. Wir Deutsche sollten ja eigentlich aufgrund unserer Erfahrung im Nationalsozialismus besonders sensibel bei dem Thema sein. Der Deutsche Ethikrat hat Empfehlungen zum Schutz ungeborenen Lebens an den Gesetzgeber und auch an die wissenschaftliche Forschung formuliert. Entsprechende Forschungsprojekte wurden aber nicht bewilligt. Für die gibt es kein Geld. Aus meiner Sicht ist das ein forschungspolitischer Skandal.

Sie sind also gegen Pränataldiagnostik?
FJB: Ich bin nicht generell dagegen. Pränataldiagnostik kann positive Effekte haben, wenn sie mit therapeutischen Möglichkeiten verbunden ist. Aber wir diagnostizieren immer häufiger ohne eine therapeutische Konsequenz – was im Ergebnis zu einem Abbruchautomatismus nach fragwürdigen Kriterien führt. Der Lebenswert wird hier beurteilt – auch wenn das rechtlich ein bisschen anders verklausuliert wird. Wir sagen nichts über den Lebenswert des Kindes, sondern nur über die Zumutbarkeit dieses Kindes für die Mutter. 

Für wie wirksam halten Sie die Stellungnahmen, an denen Sie selbst mitgeschrieben haben?
FJB: Es gibt Beispiele, bei denen der Gesetzgeber die Empfehlung des Ethikrates komplett ignoriert hat, wie in der Pränataldiagnostik. Und es gibt Beispiele, wo die Empfehlungen eins zu eins umgesetzt worden sind, wie für die Impfstrategie. Zusammenfassend würde ich sagen: Die Wirksamkeit rangiert zwischen 0 und 100.

Professor Franz-Josef Bormann lehrt Moraltheologie an der Universität Tübingen und forscht speziell zu aktuellen Konfliktfeldern der Bio- und Medizinethik. Er ist geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift „Medizinische Ethik“, die älteste deutschsprachige Fachpublikation in ihrem Bereich. Im Deutschen Ethikrat war er von 2016 bis 2024 Mitglied. Der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer gehört er immer noch an. Er berät auch die Deutsche Bischofskonferenz in Fragen der Bioethik.

Autor: Tilman Wörtz


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