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attempto online Forschung

11.08.2022

Erster Schnappschuss eines Scheibenwinds aus einem jungen Stern

Durch zeitgleiche Messungen von 26 Radioteleskopen gelang einem internationalen Forschungsteam die direkte Beobachtung des theoretisch vorhergesagten Teilchenstroms bei der Sternentstehung

Ein internationales Team unter der Leitung von Luca Moscadelli vom Nationalen Institut für Astrophysik in Italien hat erstmals direkt die Stromlinien eines magnetohydrodynamischen Scheibenwinds beobachtet. Um astrophysikalische Objekte wie Schwarze Löcher oder neu entstehende Sterne rotiert eine sogenannte Akkretionsscheibe, die Materie wie Gas oder Staub ins Zentrum transportiert. Bereits in den 1980er Jahren war theoretisch vorhergesagt worden, dass aus solchen Akkretionsscheiben magnetohydrodynamische Winde entstehen, die jedoch bisher nur indirekt beobachtet werden konnten.

Die neue Studie, an der auch der Doktorand André Oliva von der Universität Tübingen und sein Betreuer Professor Rolf Kuiper von der Universität Duisburg-Essen beteiligt waren, zeigt in direkter Ansicht das Geschwindigkeitsfeld eines Scheibenwinds um einen neu entstehenden massiven Stern. Die Abbildung entstand durch Wasser-Maser-Beobachtungen, die die Geschwindigkeiten individueller Stromlinien nachzeichnen, die aus der Scheibe hervortreten. Diese Beobachtungen wurden durch das globale Very Long Baseline Interferometry (VLBI)-Array ermöglicht, das 26 über Europa, Asien und die USA verteilte Radioteleskope vereint. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Nature Astronomy veröffentlicht.
Anhäufung von Materie im Zentrum der Scheibe

Während ihrer Entstehung sind viele astrophysikalische Objekte – von supermassiven Schwarzen Löchern bis hin zu Riesengasplaneten – von einer Akkretionsscheibe umgeben und stoßen gewaltige Teilchenströme aus, sogenannte Jets, die entlang der Scheibenrotationsachse ausgerichtet sind. Die Verbindung zwischen der Akkretion und dem Ausstoß ist für die Entstehung dieser Objekte entscheidend. Dabei muss sichergestellt sein, dass der überschüssige Drehimpuls aus dem System genommen wird und die Akkretion in das zentrale Objekt ablaufen kann.

Theoretisch hatte man diesen Prozess bereits in den 1980er Jahren verstanden und konnte die Entstehung von Schwarzen Löchern und Sternen mit magnetohydrodynamischen Scheibenwinden verbinden: Das sind Winde, die von der Scheibe durch einen magneto-zentrifugalen Mechanismus ausgeworfen werden. Magnetohydrodynmaische Scheibenwinde sind der vorgeschlagene Mechanismus, durch den ein Teil des Akkretionsflusses von der Scheibe zum zentral entstehenden Objekt – einem Schwarzen Loch oder einem Stern – gerichtet wird und außen entlang der Scheibenrotationsachse beschleunigt wird zu einem gebündelten Jet.

Direkter Beweis

Bisher war der beste praktische Nachweis für die magnetohydrodynamischen Scheibenwinde die Beobachtung einer in der Astronomie als Sichtlinie eines Geschwindigkeitsgradienten bezeichneten Struktur rechtwinklig zur Jetachse, was interpretiert wurde als Jetrotation aufgrund des magneto-zentrifugalen Auswurfs des Jets. Dabei handelt es sich jedoch um einen indirekten Nachweis, der anfällig ist für Fehlinterpretationen und systematische Fehler. Die jetzt beobachtete Spur der für einen magnetohydrodynamischen Scheibenwind typischen Stromlinien ist ein deutlich überzeugenderer Beweis.

Die neue Studie wurde von den INAF-Forschern Luca Moscadelli und Alberto Sanna durchgeführt gemeinsam mit Henrik Beuther vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, André Oliva von der Universität Tübingen und Rolf Kuiper von der Universität Duisburg-Essen. Sie beobachteten eine spezifische Radiowellenemission: die Linie, die von Wassermolekülen bei einer Frequenz von rund 22 Gigahertz emittiert wird. Diese Linie wird normalerweise in Regionen der Sternentstehung als starker Maser beobachtet – sozusagen wie ein Laser im Mikrowellenbereich. Wie Laser sind auch Maser starke und hochpräzise Strahlenbündel im Radiofrequenzbereich. Die Beobachtungen mit dem Wasser-Maser ermöglichten dem Team die erste direkte Beobachtung zweier für die magnetohydrodynamischen Scheibenwinde typischen Bewegungsmuster: Spiralbewegungen dicht an der Rotationsachse und ein mitrotierender Strom in größeren Radien.

Realisation eines gigantischen Teleskops

Die Beobachtungen wurden mit dem globalen Very Long Baseline Interferometry (VLBI)-Netzwerk gemacht, mit 26 Radioteleskope, die verteilt über Europa, Asien und die USA bei 22 Gigahertz gemessen haben. All diese Einrichtungen haben 24 Stunden lang gleichzeitig die Wasser-Maser-Emissionen in Richtung des Ziels, also des entstehenden Sterns, beobachtet. Diese Technik erlaubt es, ein gigantisches Teleskop nachzuahmen, das einen Durchmesser vergleichbar mit dem Erddurchmesser hat und eine extrem hohe Winkelauflösung von circa 0,5 Millibogensekunden erreicht. Nur so konnte die räumliche Verteilung des Wasser-Masers in der Nähe des entstehenden Sterns untersucht werden. Da die Maserlinie außerdem eine sehr hohe Empfindlichkeit für die Strahlungsintensität hatte (circa 0,7 mJy), konnten viele schwache Maser im Bereich (unter 50 mJy) aufgezeichnet werden, wodurch das Team die Scheibenwind-Stromlinien genau verfolgen konnte.

André Oliva und Rolf Kuiper simulierten die Entstehung eines massereichen Sterns mit numerischen Modellen. „Unsere Simulationen zeigten, wie sich um den jungen Stern und aus der Akkretionsscheibe Jets bilden“, berichten sie. Diese Abläufe wurden mit den Maser-Beobachtungen verglichen. „Die Stromlinien aus unserer Simulation stimmen mit den Bewegungsmustern aus den Maser-Daten sowie mit Beobachtungen aus früheren Untersuchungen zur Entstehung der großskaligen Jets genau überein.“

Luca Moscadelli, der INAF-Forscher in Florenz und Erstautor der neuen Studie, sagt: „Diese Arbeit zeigt, dass die Very Long Baseline Inerferometry von Wasser-Masern bei entstehenden Sternen ein einzigartiges Werkzeug ist, um die Physik der Scheibenwinde in bisher unerreichten Details zu untersuchen. Wir haben neue Beobachtungen der Wasser-Maser-Emission gemacht, indem wir alle im VLBI-Netzwerk verfügbaren Teleskope genutzt haben. Unser Ziel war es, Radio-Interferometer einer neuen Generation zu generieren, was die bisherige Empfindlichkeit um mehr als eine Größenordnung verbessern wird. Wir wollten schwache Maser näher am entstehenden Stern messen, um die Kinematik der Scheibenwinde besser zu beproben.“

Nach einer Pressemitteilung des Istituto Nazionale di Astrofisica (INAF)/Hochschulkommunikation, Universität Tübingen

Publikation:

L. Moscadelli, A. Sanna, H. Beuther, G.A. Oliva and R. Kuiper: Snapshot of a magnetohydrodynamic disk wind. Nature Astronomy, https://doi.org/10.1038/s41550-022-01754-4

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Kontakt:

André Oliva Mercado
Universität Tübingen
Institut für Astronomie und Astrophysik
+49 7071 29-77682
andree.olivaspam prevention@uni-tuebingen.de

Prof. Dr. Rolf Kuiper
Universität Duisburg-Essen
Fakultät für Physik – Numerische Astrophysik
+49 203 379-2816
rolf.kuiperspam prevention@uni-due.de

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