Uni-Tübingen

attempto online Forschung

13.06.2023

Klimapolitik sollte mehr auf die Wissenschaft hören

Zu wenig Raum für langfristige, sektorübergreifende Planung: Studie untersucht, wie Beratungsgremien zu Klimafragen in Deutschland und Japan besetzt und vernetzt sind

Zahlreiche Studien seit den 1980er Jahren haben die Möglichkeit eines drohenden Klimawandels untersucht und, mit welchen dramatischen Folgen wir bei einer Erderwärmung rechnen müssen. Und dennoch scheint die Umsetzung entsprechender Maßnahmen nun sehr spät zu kommen und drängender denn je. Warum dauert es so lange, bis wissenschaftliche Erkenntnisse auch Eingang in konkretes politisches Handeln finden? Politische Entscheidungsträger sollten häufiger auf wissenschaftliche Expertise hören und komplexe Themen stärker ganzheitlich betrachten, beispielsweise im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Ministerien, sagt die Politikwissenschaftlerin Melanie Nagel von der Universität Tübingen.

Dies sei bislang nicht ausreichend der Fall, schließt sie aus Daten, in denen sie mit internationalen Kollegen die Zusammensetzung politischer Beratungsgremien im Umfeld des Klimawandels untersucht hatte. Gemeinsam mit Keiichi Satoh von der Universität Tokio und Adam Douglas Henry von der Universität Arizona nahm sie Beratungsausschüsse in den Blick, die Regierungen in den Jahren 2010-2015 zur Klimapolitik beraten hatten, in Deutschland und vergleichend in Japan. Die Ergebnisse wurden nun im Fachmagazin PLOS Climate veröffentlicht.

Schnittstellen zwischen Politik und Wissenschaft

Insgesamt 44 nationale Gremien identifizierte das Team für Deutschland, die sich mit Fragen der Klimapolitik beschäftigen und beratend tätig sind. In Japan gingen die Daten zu 174 Gremien ein, die Fragestellungen zu Klimathemen für die Regierung bearbeiten.

„Wir fanden es wichtig, diese Gremien als Schnittstellen zwischen Politik und Wissenschaft zu untersuchen“, sagt Nagel. „Wir wollten besser nachvollziehen, warum wissenschaftliche Empfehlungen nur teilweise Eingang in politische Entscheidungen finden.“ Gerade bei komplexen Politikfeldern wie der Umwelt- und Klimapolitik würden oft einzelne Aspekte zu stark isoliert betrachtet und nicht in ihrem Zusammenspiel, findet die Politikwissenschaftlerin.

Das Team untersuchte dafür, zu welchem Grad Beratungsgremien vernetzt und in die Politik eingebunden sind, die Politikwissenschaft spricht hier von „Policy Integration“. Dabei bezieht sich die „vertikale Integration“ darauf, wie zahlreich verschiedene gesellschaftliche Perspektiven in einem Gremium vertreten sind und zu einem diversen Meinungsbild beitragen: Finden sich zum Klimaschutz Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlicher Wirtschaftsfelder, aus Umweltschutzverbänden, Bundes- und Kommunalpolitik? Aus der Wissenschaft genauso wie aus nicht-wissenschaftlichen Bereichen?

Die „horizontale Integration“ bezeichnet hingegen die Vernetzung zwischen Politikerinnen und Politikern unterschiedlicher Bereiche und Ministerien. Für den Klimaschutz sind hier beispielsweise das Wirtschaftsministerium und das Umweltministerium wichtige Adressen, genauso sind aber die Bereiche Landwirtschaft oder Verkehrswesen betroffen. Kommunikation kann hier durch „membership overlap“ verstärkt werden: Akteure, die verschiedenen Gremien gleichzeitig angehören, geben Wissen und Informationen weiter.

In einer Sozialen Netzwerkanalyse quantifizierte das Team die politische Integration. Dabei werden Akteure als „Knoten“ in einem Netzwerk gesehen, das durch Austausch und Kommunikation verbunden ist – in den Sozialwissenschaften wird diese Methode angewendet um Beziehungen zwischen Akteuren sichtbar zu machen.

Das Ergebnis: Deutschland ist schon ganz gut aufgestellt, was die vertikale Integration betrifft, also die diverse Zusammensetzung der Gremien. Hier gebe es im Unterschied zu Japan eine lange Tradition, verschiedene gesellschaftliche Gruppen bei Klimafragen einzubinden, sagt Nagel. So seien auch gemeinnützige Organisationen und Vertreterinnen und Vertreter der kommunalen Ebene repräsentiert. In Japan setzen sich die Gremien vor allem aus Unternehmen, Forschungsinstitutionen sowie einzelnen Forschenden zusammen – gemeinnützige Initiativen aus dem Umweltschutz treten nicht – oder nur sehr selten – in Erscheinung.

Sprechen Ministerien zu wenig miteinander?

Bei der horizontalen Integration lagen beide Länder in etwa gleich auf, das Forscherteam fand ähnliche Strukturen vor. Ein Unterschied in der Herangehensweise: Während in Japan mehr als die Hälfte der entsprechenden Kommissionen dem Wirtschaftsministerium zugeordnet ist, gehört in Deutschland die Mehrheit der Kommissionen zum Umweltministerium. Positiv fand das Team, dass deutsche Gremien durch Expertinnen und Experten dominiert werden. Eher ungünstig, dass die Aufgaben klar getrennt sind und jedes Gremium für sich eine hohe Entscheidungskompetenz zugesprochen wird. Dies führe dazu, dass Themen eher isoliert als im Gesamtkontext gesehen würden, sagt Nagel.

Unabhängig von den länderspezifischen Unterschieden war das Ergebnis für beide Länder: Die Kommunikation zwischen den Ministerien ist noch ausbaufähig. „Ein themenübergreifender Austausch findet nur eingeschränkt statt, das sehen wir als problematisch an.“ Melanie Nagel würde sich hier einen stärkeren Austausch zwischen verschiedenen Politikbereichen wünschen – und auch ein stärkeres Gewicht für wissenschaftliche Empfehlungen, selbst wenn Deutschland traditionell bereits verschiedene Perspektiven einbindet.

„Nach wie vor richtet sich politisches Handeln oft kurzfristig nach Wahlzyklen aus. Langfristige, von der Wissenschaft empfohlene Weichenstellungen, z.B. für mehr Klimaschutz, werden von den Wählern wenig belohnt“, sagt Nagel. „Wir plädieren für eine evidenz-basierte Politik und mehr Austausch von Politik und Wissenschaft mit allen gesellschaftlichen Gruppen.“

Melanie Nagel / Antje Karbe

Publikation:

Melanie Nagel, Keiichi Satoh, Adam Douglas Henry: „Network Analysis of Scientific Advisory Committee Integration in Climate Change Policy: A Comparison of Germany and Japan”, PLOS Climate, 2(6): e0000222., https://doi.org/10.1371/journal.pclm.0000222 

Kontakt:

Dr. Melanie Nagel
Universität Tübingen 
Institut für Politikwissenschaft
melanie.nagelspam prevention@uni-tuebingen.de 

Zurück