Uni-Tübingen

attempto online

19.07.2023

Genetischer Schmelztiegel im kupferzeitlichen Südosteuropa

Internationales Forschungsteam findet genetischen Nachweis zu frühem Kontakt zwischen Menschen bäuerlicher Gesellschaften aus Südosteuropa und frühen Hirtennomaden aus der nordwestlichen Schwarzmeerregion

Beigaben aus dem kupferzeitlichen Gräberfeld von Varna an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Die Kupfer- und Goldgegenstände gelten als die weltweit ältesten.

Migration und individuelle Mobilität haben offenbar bereits in der Kupfer- und Bronzezeit vor mehreren Tausend Jahren eine größere Rolle in der Menschheitsgeschichte gespielt, als bisher angenommen wurde. Häufig kam es bei neuen Begegnungen zum Transfer von kulturellem und technischem Knowhow, Veränderungen der Sozialstrukturen und der Wirtschaftsweise. Die Ausbreitung der Menschen spiegelt sich auch in deren genetischen Profilen wider. Diese Entwicklungen untersuchte ein internationales Forschungsteam unter der Leitung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in einer neuen Studie, in der die Genome von 135 Individuen der Kupfer- und Bronzezeit (6.500 bis 4.000 Jahre vor heute) aus Südosteuropa und der nordwestlichen Schwarzmeerregion analysiert wurden. Beteiligt am Forschungsteam waren von der Universität Tübingen Professor Raiko Krauß vom Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters und Dr. Maria Spyrou aus der Archäo- und Paläogenetik des Instituts für Naturwissenschaftliche Archäologie. Die großangelegte humangenetische Studie zur europäischen Urgeschichte wurde nun in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Vor etwa 7.000 Jahren begann man in Südosteuropa mit dem Abbau und der Verarbeitung von Kupfer. Verkehrsgünstig an der Donau beziehungsweise am Schwarzen Meer gelegen und mit Zugang zu Gold und Salzvorkommen blühten die dortigen Gesellschaften durch Kontakte und Handel mit umliegenden Regionen auf. In Teilen des heutigen Bulgariens und Rumäniens etablierten sich zahlreiche größere Siedlungshügel, die über ein dichtes Austauschnetzwerk miteinander in Verbindung standen. Gleichzeitig bildeten sich soziale Hierarchien heraus, die sich deutlich in der ungleichen Verteilung von Prestigegütern zeigten. So fanden sich im Gräberfeld von Varna in Bulgarien reich ausgestattete Gräber mit zahlreichen Kupfer- und Goldbeigaben, die im Vergleich zu anderen Bestattungen dieser Zeit auf eine ungleiche Verteilung des Reichtums hindeuten.

Auf eine Phase der Stabilität folgt der Umbruch

Dokumentationen der archäologischen Forschung zufolge waren die materielle Kultur und das soziopolitische Netzwerk dieser Siedlungen über einen Zeitraum von rund 500 Jahren stabil (von etwa 6.700 bis 6.200 Jahren vor heute). Die neuen genetischen Analysen ergaben, dass sich diese Stabilität auch in der genetischen Homogenität der Individuen der Kupferzeit widerspiegelt. Das genetische Profil der Menschen aus Südosteuropa hatte sich im Vergleich zur ersten Welle von eingewanderten Bauern aus Westanatolien und der Ägäis nur wenig geändert, unter anderem durch einen leichten genetischen Eintrag von Jägern und Sammlern aus umliegenden Regionen.

Vor circa 6.000 Jahren wurden viele Siedlungen der Kupferzeit verlassen. Die Gründe dafür sind noch unklar. Klimatische Veränderungen und die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen mögen eine Rolle gespielt haben. Die Siedlungsaktivität scheint sich weiter nach Norden in die Gebiete der Waldsteppe, zum Beispiel in das heutige Moldawien und die Ukraine, verlagert zu haben, wo zur Zeit der Cucuteni-Tripolje-Kultur (etwa 6.200 bis 5.000 Jahren vor heute) riesige Siedlungen entstanden.

Die Region um das heutige Odessa war vor 5.500 bis 4.600 Jahren vor heute ein Schmelztiegel mit Einflüssen der ausgehenden kupferzeitlichen Kulturen, der nordwestlichen Cucuteni-Tripolje-Kultur, der östlich angrenzenden Steppenregion, aber auch der geografisch entfernten Maikop-Kultur im Nordkaukasus. Diese Zeit war durch eine Vielzahl von technischen Innovationen, wie die Entwicklung von Rad und Wagen, neuen metallurgischen Verfahren und Gerätschaften geprägt, die sich rasch über große Gebiete zwischen dem Kaukasus und der Nordsee ausbreiteten.

Ein hochdynamisches Bild

Die genetischen Ergebnisse von 18 Individuen aus der Zeit vor 6.500 bis 5.400 Jahren bestätigen die Heterogenität der archäologischen Funde. Zusätzlich zur lokalen genetischen Signatur der kupferzeitlichen Siedler Südosteuropas konnten auch genetische Signaturen aus der Steppe nördlich des Schwarzen Meeres und dem Nordkaukasus nachgewiesen werden. Dies deutet auf mehrere Einflüsse hin, die in dieser Kontaktzone aufeinandertrafen.

Neben einem archäologisch belegten kulturellen Austausch in der nordwestlichen Schwarzmeerregion gab es auch einen genetischen Austausch zwischen Gruppen aus dem Westen und Osten. Eine Zeit des frühen Kontaktes und Austausches ist mit den neuen Individuen aus der heutigen Ukraine damit deutlich dokumentiert. Wichtig zu erwähnen ist allerdings, dass kein Beweis dafür gefunden wurde, dass Gruppen aus der Steppe zum Untergang der kupferzeitlichen Kulturen geführt hätten; eine Theorie, die noch von manchen Archäologen des zwanzigsten Jahrhunderts vertreten wurde.

Die nachfolgende Frühbronzezeit ab 5.300 Jahren vor heute ist dann durch die Ausbreitung der Hirtennomaden in Zusammenhang mit der Jamnaja-Kultur charakterisiert, welche aus diesem Austausch und Kontakthorizont hervorging. Individuen aus dem heutigen Bulgarien und der Ukraine, welche in für die Steppe charakteristischen Grabhügeln bestattet wurden, tragen ebenfalls die typische ‚Steppensignatur‘. 

Insgesamt zeichnet die Studie ein hochdynamisches Bild der Urgeschichte Südosteuropas, aus welchem deutlich wird, dass differenzierte archäogenetische Studien wie diese völlig neue Einblicke in die Interaktionen prähistorischer Kulturen und die genetische Geschichte dieser Region ermöglichen.

Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie/Professor Raiko Krauß, Universität Tübingen

Publikation:

Sandra Penske, Adam B. Rohrlach, Ainash Childebayeva, Guido Gnecchi-Ruscone, Clemens Schmid, Maria A. Spyrou, Gunnar U. Neumann, Nadezhda Atanassova, Katrin Beutler, Kamen Boyadzhiev, Yavor Boyadzhiev, Igor Bruyako, Alexander Chohadzhiev, Blagoje Govedarica, Mehmet Karaucak, Raiko Krauss, Maleen Leppek, Igor Manzura, Karen Privat, Shawn Ross, Vladimir Slavchev, Adéla Sobotkova, Meda Toderaş, Todor Valchev, Harald Ringbauer, Philipp W. Stockhammer, Svend Hansen, Johannes Krause, Wolfgang Haak: Early contact between late farming and pastoralist societies in southeastern Europe. Nature, https://doi.org/10.1038/s41586-023-06334-8

Kontakt: 

Professor Dr. Raiko Krauß
Universität Tübingen
Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters
raiko.kraussspam prevention@uni-tuebingen.de

Dr. Maria A. Spyrou
Universität Tübingen
Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie
maria.spyrouspam prevention@ifu.uni-tuebingen.de

Sandra Penske
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
sandra_ellen_penskespam prevention@eva.mpg.de

Dr. Wolfgang Haak 
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
+49 341 3550-850
Mobil +49 173-2122174
wolfgang_haakspam prevention@eva.mpg.de

 

Zurück