Uni-Tübingen

Attempto! 02/2023: Bauschutt als Ressource

Ein Start-up aus Tübingen entwickelt mithilfe Künstlicher Intelligenz eine Kamera zur Trennung von Bauschutt. Der Markt ist riesig – der mögliche Beitrag zum Klimaschutz auch.

Die Idee entstand beim Abendessen mit einem der größten Recycling-Unternehmer Deutschlands. Zwischen Tomatensalat und Zwiebelrostbraten erzählte dieser den vier Freunden von Lastern auf seinen Halden, die tonnenweise Bauschutt ankarrten: „Wir wissen nicht genau, was sie auf der Kippe haben“, klagte er. Kiesel oder Keramik, Ziegel oder Zement, alles durcheinander. Dabei sei ein großer Teil eigentlich wiederverwertbar.

Da dachten die Freunde: ein Riesenproblem und keine Lösung – klingt nach einer Unternehmensidee. Sie hatten während des Studiums mit einer ersten Gründungsidee Experimente mit Kameras gemacht, die mithilfe Künstlicher Intelligenz Oberflächen-Strukturen von Obst unterscheiden konnten. Wahrscheinlich ließe sich das Verfahren auch auf Bauschutt anwenden. Also legten die vier Kapital für ein Start-up zusammen und setzten im Februar 2022 ihre Unterschriften unter einen GmbH-Vertrag.

Müll in Bewegung

Mitten in Tübingen, am Holzmarkt gegenüber von Stiftskirche und Fachwerkhaus-Zeilen: das Büro von Optocycle. Darin: Schreibtische mit vielen Bildschirmen, auf dem Boden eine Kiste mit Kies und zerbrochenen Ziegeln. Eine Kamera hängt an einem Gerüst über dem Haufen. Die Apparatur ist aber lediglich ein Modell für Präsentationszwecke. Die eigentliche Anlage von Optocycle filmt im hessischen Lahnau einfahrende Lkws auf einer Mülldeponie.

Erwachsene Menschen erkennen leicht den Unterschied zwischen einem Haus und einem Lastwagen und ob dieser beladen ist oder nicht. Eine KI muss sich diese Fähigkeit mithilfe von Trainingsdaten aneignen. Optocycle hat durch die Partnerschaft mit dem Recyclingunternehmen in Lahnau einen bisher weltweit einzigartigen Datensatz. „Wir erhalten jeden Tag hunderte Aufnahmen von der Mülldeponie und füttern damit die KI“, sagt Gründer Lars Wolff, 31, im Unternehmen der Informatik-Experte. 95 Prozent der Materialien erkennt die KI bereits korrekt. Der Rest Unsicherheit ist bald auch noch abtrainiert.

In einem zweiten Schritt muss das neuronale Netz die Bewegung der Lastwagen erkennen und ausgleichen, damit klare Bilder entstehen und ausgewertet werden können. „Die Lastwagen fahren schnell unter der Kamera hindurch und verwackeln das Bild“, sagt Wolff. Sein Blick folgt den Zeilen auf seinem Monitor voller Buchstaben, Zahlen und Zeichen. Immer wieder tippt er etwas in seine Tastatur. Eine Werkstudentin der Universität Tübingen hilft ihm bei der Weiterentwicklung des Codes.

Unterdessen knüpft Gründerkollege Max-Frederick Gerken, 28, am Nebentisch für die Kamera-Tests Kontakte zu einem weiteren Recyclingunternehmen, näher bei Tübingen. An Bauschutt mangelt es nicht: 80 Millionen Tonnen Beton, Kies, Ziegel und sonstiger Schutt fallen auf Baustellen in Deutschland jedes Jahr an. Bauschutt ist damit die mit Abstand gewichtigste Abfallart in Deutschland.

„Die Baubranche behauptet, der Bauschutt werde recycelt, aber diese Aussage ist irreführend“, sagt Gerken. „Der Schutt wird zum großen Teil im Straßenbau verfüllt – eine wirkliche Kreislaufwirtschaft findet nur sehr begrenzt statt.“ Dabei sind Beton und Ziegel wertvolle Baumaterialien und ließen sich wiederverwerten – wenn die Laster und ihre Ladung bereits bei der Einfahrt auf die Mülldeponie eingeteilt werden könnten in: Beton, überwiegend Beton, gemischte Ladung. Nehmen die Arbeiter auf der Müllhalde mit bloßem Auge die Unterscheidung vor, unterlaufen zu viele Fehler. Selten scannen sie die gesamte Ladung, haben schlechte und gute Tage. Künstliche Intelligenz kann das schneller und treffsicherer.

Die Technologie wäre ein Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel. „Acht Prozent der Treibhaus-Gase stammen aus der Produktion von Zement“, sagt Gerken. „Wenn wir das Recycling-Problem von Bauschutt lösen, können wir aktiv zur Reduktion von CO2-Emissionen beitragen.“

Einsatz des Datenwürfels

Gerken sagt im Gespräch häufig, dass er „Probleme lösen“ möchte. Der Satz kling gut gelaunt, fast ein wenig verspielt. Dabei knetet er einen Reifen aus einem Lego-Baukasten. Der Kasten steht griffbereit auf dem Tisch. „Lego regt mich beim Denken an und entspannt“, sagt Gerken. Nicht der Profit, sondern der „Impact“, die positive Wirkung seines Unternehmens, habe ihn zur Gründung gereizt. Er müsse immer wieder Neues ausprobieren und umsetzen.

An der Universität Tübingen studierte er zunächst Wirtschaftswissenschaften, später besuchte er auch Vorlesungen in Informatik. Nach dem Studium leitete er für Lidl fünf Verkaufsstellen mit insgesamt hundert Mitarbeitern. Jetzt ist er in der Firma für die Geschäftsleitung zuständig. Gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Kognitive Systeme der Universität Tübingen beantragte er über eine halbe Million Euro bei Invest BW, einem Förderprogramm für Innovationen des badenwürttembergischen Wirtschaftsministeriums. Die Informatiker um Lehrstuhl-Inhaber Andreas Zell entwickeln ein neues Verfahren zur optischen Analyse von Oberflächen und Materialien mithilfe Künstlicher Intelligenz: sogenannte hyperspektrale Datenwürfel. Wie so ein Würfel funktioniert, wird am nächsten Tag am Institut für Informatik deutlich.

Gerken und Wolff wuchten Kisten mit Bauschutt aus dem Kofferraum auf ein Wägelchen und karren die Ware durch das Institut für Informatik bis ins Labor von Leon Varga und Hannah Frank. Dort stellen sich Unternehmer und Forschende um die Kisten: „Bitumen, Ziegel, Zement mit Kies, nur Kies … Reicht Euch das?“ „Vorerst“, antwortet Varga, ein Informatiker mit kunstvoll gezwirbeltem Oberlippen-Bart. „Wir machen Aufnahmen und labeln die Bestandteile in unterschiedlichen Farben.“

Das Label zeigt dem neuronalen Netz, an welcher Stelle des Bildes Ziegel, Kiesel oder Beton liegen. Wie ein Lehrer, der Schülern die richtige Antwort für eine Aufgabe verrät. Im Anschluss lernt das Netz selbständig, welche elektromagnetischen Wellenlängen, Formen und Oberflächenstruktur charakteristisch für das Label sind. So trainiert es sich selbst die Fähigkeit zur Unterscheidung an.

Kamera soll erschwinglich sein

Für die Aufnahmen wird Leon Varga einzelne Brocken aus den Kisten auf eine Kunststoff-Platte unter seiner Kamera legen. Die Kamera wird Aufnahmen machen, sowohl im Wellenlängen-Spektrum des sichtbaren Lichts zwischen 350 und 750 Nanometern als auch darüber hinaus bei bis zu 1.700 Nanometern Wellenlänge. „Das Spektrum jenseits des sichtbaren Lichts ist vermutlich besser geeignet, Bestandteile von Bauschutt voneinander zu unterscheiden“, erklärt er. Die Zuversicht schöpft er aus durchgeführten Experimenten seines Lehrstuhls. Professor Zell und sein Team sind auf die Hyperspektralanalyse von Nahrungsmitteln spezialisiert. Sie entwickeln Verfahren zur visuellen Analyse von Pilzbefall auf Nutzpflanzen oder des Reifegrads von Obst und Gemüse und wissen, wie reichhaltig die Informationen im Wellenspektrum jenseits des sichtbaren Lichts sind.

Nun also Bauschutt. Leon Varga und Hannah Frank hoffen auf eine Veröffentlichung ihrer Messergebnisse in einem Fachjournal. Alle Erkenntnisse werden öffentlich zugänglich sein – zu dieser Offenheit sind sie als Wissenschaftler verpflichtet. Optocycle wird die Erkenntnisse jedoch im Anschluss nutzen können, um eine erschwingliche Kamera für Mülldeponien zu entwickeln.

Die Kamera in Vargas Labor kostet mehrere Zehntausend Euro und erstellt hyperspektrale Würfel in sehr vielen Wellenlängenbereichen des Bauschutts. Optocycle wird nach der Versuchsreihe genau wissen, welche Wellenlängen für die Unterscheidung von Bauschutt überhaupt wichtig sind. Eine spezialisierte Kamera ist viel günstiger entwickelbar. „Unsere Kamera darf nicht mehr als ein paar hundert Euro kosten“, sagt Gerken. In eineinhalb Jahren, da ist er zuversichtlich, wird Optocycle das Produkt bereits verkaufen.

Begleitung durch Start-up-Center

Für diesen letzten Schritt der Gründungsphase hat Gerken eine weitere Geldquelle aufgetan: eine sogenannte PreSeed-Finanzierung in Höhe von 250.000 Euro durch die L-Bank und einen Co-Investor, in diesem Fall ein Stuttgarter Bauunternehmen. Für Beantragung und Abwicklung des Geldes steht ihm das Start-up-Center der Universität (siehe Kasten) zur Seite. „Sie übernehmen für uns die Kommunikation mit der Bank und bringen ihre Expertise ein.“ Ist die Unternehmung erfolgreich, kann das Land den Kredit in Anteile am Unternehmen umwandeln – ein Fördermodell, das in Israel entwickelt und erfolgreich angewandt wurde.

Gerken vertraut darauf, dass der Aufbau seines Start-ups nach Plan verlaufen wird: eineinhalb Jahre bis zur Marktreife, sechs Jahre bis zum „Hidden Champion“, dann kommt etwas Neues. Dass Konkurrenten schneller sein könnten, bedrückt ihn nicht. „Bevor Mark Zuckerberg Facebook gründete, hätte er sicher eine lange Liste machen können, warum sein Vorhaben scheitern könnte“, sagt er. „Hat er aber nicht. Stattdessen hat er losgelegt.“

Das Start-Up-Center Tübingen

Das Start-up-Center der Universität Tübingen unterstützt Studierende und Forschende bei der Gründung eines Unternehmens. Fachleute sprechen vom „Transfer“ wissenschaftlicher Erkenntnis in die reale Welt.

Es greift in einen wohlbestückten Methodenkoffer: Eine Start-up-Messe inspiriert unentdeckte Talente, in Workshops vermittelt es Kenntnisse für das Erstellen eines Businessplans, Basiswissen in Buchhaltung, Steuerrecht und Marketing. Im individuellen Coaching hilft es bei der Weiterentwicklung der Geschäftsidee, begleitet die Beantragung und Abwicklung von Fördermitteln. Über ein Netzwerk können Gründerinnen und Gründer Gleichgesinnte, Banken und andere Partner für die Umsetzung ihrer Idee treffen.

2022 erreichte die Universität Tübingen im Ranking „Die besten Unis für Start-ups“ Platz drei. Das Ranking beurteilt die Universität ausschließlich nach ihrer Bedeutung für die Entwicklung von Start-ups.

Zum Start-Up-Center

Text & Photos: Tilman Wörtz


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