Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2019: Forschung

Bücher, Fotos und Archive statt Schaufel, Spatel und Pinsel

Matthias Toplak untersucht Grabfunde von der schwedischen Insel Gotland aus dem Jahr 1884

Der Tisch verschwindet unter großen Papierbögen mit feinen Zeichnungen von Skeletten und Gräbern, auf dem Bildschirm sehen wir ein Foto von vergilbten handbeschriebenen Heftseiten. Der Archäologe Dr. Matthias Toplak sitzt an seinem Schreibtisch und gräbt – in alten Grabungsunterlagen, Tagebucheinträgen und Fotos. In den vergangenen 12 Monaten wertete er am Sonderforschungsbereich (SFB) 1070 RessourcenKulturen die Grabungsdokumentation des berühmten schwedischen Archäologen Gabriel Gustafson aus dem Jahr 1884 aus. Als Toplak die Unterlagen zu einem Gräberfeld auf der schwedischen Insel Gotland genauer unter die Lupe nahm, stieß er auf einen länglich verformten Frauenschädel, in der Forschung als „Turmschädel“ bekannt. Er wurde neugierig und recherchierte weiter: in Grabungsberichten zu anderen Gräberfeldern auf der Insel fand er tatsächlich Fotos und Beschreibungen von zwei weiteren deformierten Schädeln .Die Grabbeigaben zeigen, dass die drei Frauen mit Turmschädeln am Ende der Wikingerzeit auf Gotland im frühen 12. Jahrhundert gelebt haben müssen.

Das Besondere dabei: die Sitte, durch Bandagen im frühesten Kindesalter die Köpfe zu sogenannten Turmschädeln zu verformen, ist in Mitteleuropa aus einer viel früheren Epoche bekannt, nämlich der Zeit der Völkerwanderung um etwa 600 n. Chr. „Das stellt unser Bild auf den Kopf“, sagt Matthias Toplak. „Die Forschung ging davon aus, dass diese Praxis nach der Völkerwanderung nicht mehr ausgeübt wurde.“ Bei seiner weiteren Recherche, unter anderem in russischer Fachliteratur, stieß Toplak auf weitere Turmschädel aus demselben Zeitraum, die in Südosteuropa, vor allem in Bulgarien, gefunden wurden. Er entdeckte historische Berichte, die darauf hindeuten, dass diese Sitte in Zentralasien noch bis in das 14. Jahrhundert üblich war. Toplak geht daher davon aus, dass die drei Turmschädelfrauen nicht auf Gotland geboren wurden: „Möglicherweise stammten sie aus Südosteuropa und kamen durch Heirat auf die Insel.“

Toplaks Werkzeuge bei dieser archäologischen Forschung waren nicht Schaufel, Spatel und Pinsel, sondern die ausführlichen Tagebuchaufzeichnungen und Grabungsdokumentationen von Gustafson aus dem Jahre 1884. Die Funde lagen seit dieser Zeit weitgehend unbeachtet in schwedischen Archiven. Dieses Vorgehen kommt in der Archäologie häufig vor: oft fehlen die Mittel, um das Ausgegrabene direkt auszuwerten.

Die Frage, die sich Matthias Toplak und seine Mitarbeiterin Valerie Palmowski nun stellen ist: Wie ging die Wikingergesellschaft mit den drei Frauen um, die durch ihre Turmschädel deutlich als fremd gekennzeichnet waren? „Wie das zu Lebzeiten war, wissen wir nicht; darüber geben uns die Gräber keine Auskunft. Wohl aber was nach dem Tod passierte – an ihrer Bestattung sieht man deutlich, dass die Frauen wie Angehörige der gotländischen Gesellschaft mit der üblichen Tracht begraben wurden.“ Eine der Turmschädelfrauen wurde mit einer ungewöhnlich hohen Anzahl von Fibeln, also mit einer deutlich übersteigerten Tracht, bestattet. Ihre Zugehörigkeit sollte vermutlich besonders hervorgehoben werden.

Die beiden Wissenschaftler interpretieren dies als Zeichen einer gelungenen Integration in die Aufnahmegesellschaft. „Wir gehen davon aus, dass die Frauen wahrscheinlich durch Heirat auf die skandinavische Insel kamen und ihre exotische Erscheinung als Sinnbild für weitreichende Handelskontakte und somit für Reichtum und Einfluss angesehen wurde. Die Körpermodifikationen der drei Frauen sehen er und Palmowski als Embodiment, also eine Verkörperung von sozialer Identität. Das „anders Aussehen“ sei von den Wikingern auf Gotland und möglicherweise von den Frauen selbst als sozio-kulturelle Ressource genutzt worden, um multilaterale Vernetzung zu verdeutlichen.

Im Frühjahr 2019 werden Toplak und Palmowski mit der Universität Stockholm die Skelette anthropologisch untersuchen. Die Proben sollen ihre Thesen untermauern und zeigen, wo die Frauen aufwuchsen, ob sie zusammen oder getrennt nach Gotland kamen und wie sie auf der Insel lebten. Aus der Ernährungsweise zum Beispiel können sie Rückschlüsse auf den sozialen Status ziehen. Jetzt schon ist klar: der Fund, den Toplak durch Zufall in den alten Unterlagen ausgegraben hat, lässt die Tradition der Turmschädel in neuem Licht erscheinen und wird sicher noch weitere spannende Erkenntnisse liefern.

Susanne Zahn, Lisa Schmidt und Sven Kadegge

SFB 1070

Der SFB 1070 RessourcenKulturen der Universität Tübingen beschäftigt sich in mehreren interdisziplinär angelegten Forschungsgruppen mit dem Verständnis und dem Umgang von und mit Ressourcen auf der ganzen Welt, von der Altsteinzeit bis heute. Toplak und Palmowski arbeiten am Projekt B 06 „Mensch und Ressourcen in der Wikingerzeit. Anthropologische und bioarchäologische Analysen zur Nutzung von Nahrungsressourcen und Detektion von Mobilität“ mit. Im SFB wird der Begriff Ressource nicht allein als Rohstoff verstanden, sondern vielmehr als ein Gut, das auch soziologisch-kultureller Natur sein kann; z.B. Wissen oder wie im vorliegenden Fall, das Embodiment.

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