Lothar Fietz war zwölf, als der Krieg zu Ende ging; als er sich als Mittdreißiger habilitierte, waren die universitären Unruhen auf ihrem Höhepunkt. Zwischen diesen prägenden Zäsuren lagen das Studium der Anglistik, Germanistik und Romanistik in Tübingen, Heidelberg und Durham, die Promotion in der Amerikanistik, Lektorate in Bangor und Cambridge und die Assistentenzeit in Tübingen, die ihm die Sache der aufbegehrenden Studenten nahebrachte. 1969 nahm er einen Ruf auf ein Ordinariat in Stuttgart an; einen weiteren Ruf auf den Frankfurter Lehrstuhl für anglistische Literaturwissenschaft lehnte er drei Jahre später ab. 1981 gelang es seiner Alma mater, ihn als Ordinarius zurück nach Tübingen zu holen, wo er 1999 emeritiert wurde.
Sein wissenschaftliches Werk setzt mit Aufsätzen zu Kafka, Hemingway, Hesse und Thomas Mann ein, und dieses weit über die Anglistik hinausreichende Panorama blieb für seine Wissenschaft bestimmend; so sehr er die britische (und dabei vor allem die englische) Literatur liebte, lehrte und erforschte, so nachdrücklich war er offen für komparatistische Fragestellungen, interdisziplinäre Gelegenheiten und vor allem literaturtheoretische Herausforderungen. Seine Bücher werden immer noch gelesen; das systematische Konzept in „Funktionaler Strukturalismus: Grundlegung eines Modells zur Beschreibung von Text und Textfunktion“ (1976) und die drei Jahrtausende umfassende Studie „Fragmentarisches Existieren – Wandlungen des Mythos von der verlorenen Ganzheit in der Geschichte philosophischer, theologischer und literarischer Menschenbilder“ (1994) haben auf ihre je eigene Art weit über die Anglistik hinaus Beachtung und Einfluss gewonnen.
Auch wenn er mit charakteristischer Selbstironie zu sagen pflegte, er sei Strukturalist geworden, weil er sich keine Namen merken könne, stand für ihn immer das gefährdete und geplagte Individuum im Mittelpunkt. Das ist an seinen Forschungsthemen abzulesen, die um Begriffe wie Authentizität und Utopiekritik, aber auch Kulinarik und Gelächter kreisen. Diese Zuneigung zum Mitmenschen machte ihn zu einem akademischen Lehrer, den man sich, zumal als fortgeschrittener Student, nicht wohlwollender hätte wünschen können. Er war – in allen Bedeutungsnuancen – ein Humanist.
Am 15. Dezember 2019 ist Lothar Fietz nach langer schwerer Krankheit im Alter von 86 Jahren gestorben. Seine Frau und seine zwei Töchter trauern um ihn – sie sind nicht alleine.