Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2022: Studium und Lehre
Drei Tage unterwegs und fünfmal umsteigen: Katjas Reise nach Tübingen war eine kleine Odyssee
Kateryna Mytrofanova wird von Tübingen aus ihr Masterstudium an der Uni Kyiv abschließen
Kateryna „Katja“ Mytrofanova, 23, stammt aus Kyiv. Sie studiert im Sommersemester in Tübingen und ist am 31. März in der Neckarstadt angekommen.
Als der Krieg ausbrach und die Angriffe auf Kyiv zunahmen, ist Katja mit ihrer Familie von der ukrainischen Hauptstadt in die Stadt Krywyj Rih gefahren. Sie liegt im Gebiet von Dnipropetrowsk, südlich von Kyiv. Dort besitzt Katjas Familie noch ein Haus, es ist das Haus ihrer verstorbenen Großeltern. Anfang März war die Situation in Krywyj Rih relativ sicher, aber mittlerweile hat Russland bereits Gebiete in der Nähe besetzt.
An der Universität Kyiv gab es nach dem Kriegsbeginn am 24. Februar einen Monat lang außerplanmäßige Semesterferien. Seit Anfang April hat sich die Lage etwas normalisiert und es gibt jetzt wieder Lehrveranstaltungen online. Katjas Eltern fahren zum Arbeiten nach Kyiv, die ukrainische Hauptstadt versucht seit dem Rückzug der russischen Truppen zur Normalität zurückzukehren. Am 8. April wurde in Kyiv auch der Betrieb der U-Bahn und der ÖPNV wiederaufgenommen. Aber es gibt immer wieder Luftalarm, dann gehen die Menschen in die Schutzräume.
Es waren viele Flüchtlinge in den Zügen, alle haben sich gegenseitig unterstützt. Auch an den Bahnhöfen gab es viele freiwillige Helfer, die uns begrüßt haben und uns gesagt haben, welche Züge fahren und was wir machen müssen.
Von Krywyj Rih ist Katja mit dem Auto, dem Bus und der Bahn nach Deutschland gefahren. Ihre Reise nach Tübingen dauerte drei Tage, insgesamt fünf Mal musste Katja unterwegs umsteigen. Als sie losfuhr, hatte sie nur das Bahnticket bis zur polnischen Grenze in der Tasche – alles andere musste sie unterwegs organisieren. „Es waren viele Flüchtlinge in den Zügen, alle haben sich gegenseitig unterstützt. Auch an den Bahnhöfen gab es viele freiwillige Helfer, die uns begrüßt haben und uns gesagt haben, welche Züge fahren und was wir machen müssen. Wir waren also nicht auf uns allein gestellt“, berichtet Katja.
Am Tübinger Bahnhof wurde Katja von Mitarbeitern des International Office der Universität begrüßt und zu ihrer Unterkunft gebracht. Sie wohnt bei einer Familie in Tübingen, dort hat sie ein Zimmer mit eigenem Bad gemietet. Zur Finanzierung ihres Studienaufenthalts in Tübingen hat sie ein Stipendium über das Erasmus-Programms erhalten.
Katja will hier in Tübingen ihr Masterstudium der Deutschen Philologie an der Universität Kyiv abschließen. „Voraussichtlich im Juni werde ich mit dem Studium fertig sein, bis dahin habe ich noch Prüfungen und Seminare, alles online. Wie das genau funktionieren wird, weiß ich noch nicht. Bislang gab es noch nicht den Fall, dass Studierenden im letzten Semester nach Tübingen beziehungsweise ins Ausland gegangen sind. Das ist eine ganz neue Situation, wegen des Krieges – aber mir wurde gesagt, dass ich das aus Deutschland machen kann. Meine wissenschaftliche Abschlussarbeit werde ich im Bereich der deutschen, ukrainischen und englischen Lexikologie und Phraseologie schreiben“, sagt Katja. „Jetzt konzentriere ich mich auf meinen Abschluss. Danach muss ich aber auf jeden Fall auch Lehrveranstaltungen der Universität Tübingen belegen. Ich werde auch Kurse in Anglistik besuchen, zur Vorlesung "Introduction to Cultural Studies" bin ich bereits angemeldet.“
Katja hat schon in der Schule Deutsch gelernt, aber dort war Englisch die wichtigste Fremdsprache. Im Studium wollte sie daher ihre Deutschkenntnisse verbessern, dort ist Deutsch die erste Sprache und Englisch die zweite. Während ihres Bachelor-Studiums war Katja das erste Mal in Deutschland, als Gaststudentin an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd. Nach dem Bachelor hat Katja im September 2020 ihr Masterstudium in Kyiv begonnen. Aber tatsächlich war sie nur an wenigen Tagen an der Universität im Präsenzunterricht. Ansonsten fand ihr Masterstudium fast ausschließlich online statt – wegen Corona.
Was nach dem Master kommt, weiß Katja noch nicht genau: „Ich arbeite bereits jetzt neben dem Studium als Deutschlehrerin. Ich unterrichte von Tübingen aus zehn- bis elf-jährige Kinder der 5. Klasse, alles online. Bislang ist mein Plan, nach dem Studium weiter als Lehrerin zu arbeiten oder nach anderen Berufsmöglichkeiten zu schauen. Mit meinem Abschluss könnte ich auch als Übersetzerin arbeiten. Kurz bevor der Krieg ausgebrochen ist, habe ich bereits ein Praktikum in einem Übersetzungsbüro gemacht und dort Urkunden, Beglaubigungen und Gesetzestexte übersetzt.“
Dass Katja nach Tübingen gekommen ist, war Zufall. Zwei Studienplätze für Studierende der Universität Kyiv gibt es normalerweise in Tübingen, diese werden bereits im Herbst des Vorjahres vergeben. Aber wegen des Krieges haben jetzt deutlich mehr Studierende aus der Ukraine – aus Kyiv und auch aus Lviv – die Möglichkeit bekommen, nach Tübingen zu kommen. Dafür wurden zusätzliche Studienplätze geschaffen, einen hat Katja erhalten.
In Tübingen bin ich sehr freundlich empfangen worden und werde sehr gut vom International Office betreut und unterstützt. Dafür bin ich sehr dankbar.
„Das Einschreibungsverfahren für ukrainische Studierende wurde erleichtert und beschleunigt, zum Beispiel genügte für uns bei der Immatrikulation eine digitale Unterschrift. In Tübingen bin ich sehr freundlich empfangen worden und werde sehr gut vom International Office betreut und unterstützt. Dafür bin ich sehr dankbar“, sagt Katja Mytrofanova.
Kontakt zu ihrer Familie in der Ukraine hält Katja per WhatsApp oder Viber, mehrmals am Tag telefoniert sie mit ihren Angehörigen. Ihr Plan ist, das ganze Sommersemester in Tübingen zu studieren – aber das hängt auch von der Lage in ihrer Heimat ab.