Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2022: Leute

Res severa verum gaudium

Zum Tode von Professor Dr. Alexander Šumski, Universitätsmusikdirektor i. R., ein Nachruf von Thomas Schipperges

Musik an der Universität Tübingen hat eine lange Tradition. Zunächst hielten Magister der artes die lectiones musices, im 16. Jahrhundert auch die professores musices vom Stift. Mit abnehmender Relevanz der artes liberales im Bildungskanon überlebte die universitäre Musikpflege nurmehr als praktische Übung neben allerlei anderen Fertigkeiten wie Zeichnen, Reiten, Fechten, Turnen, Tanzen oder als Handwerkslehre im Rahmen eines kirchenmusikalischen Pädagogiums. Erst 1817 – aus Anlass der Dreihundertjahrfeier der Reformation – institutionalisierte man die Pflege der Musik mit Friedrich Silcher im Amt eines Universitätsmusikdirektors. 1972 übernahm dieses Amt – als neunter Tübinger UMD nach Otto Scherzer, Emil Kauffmann, Fritz Volbach, Karl Hasse, Ernst Fritz Schmid, Carl Leonhardt und Wilfried Fischer – ein Mann, der es sich zu Beginn seiner Karriere gewiss nicht hatte träumen lassen, in einer mittleren schwäbischen Kreisstadt über mehr als ein Vierteljahrhundert lang mit Laien zu musizieren, dies freilich auf höchstem Niveau: Alexander Šumski.

Geboren 1933 als Alexandru Şumski im rumänischen Timşoara (Temeschburg) im Banat, der Grenzregion zwischen dem heutigen Rumänien, Serbien und Ungarn, wurde er in den Fächern Klavier, Komposition und Dirigieren an der Hochschule für Musik (Konservatorium) in Bukarest ausgebildet. In Siena und Venedig ergänzte er in Meisterkursen bei Franco Ferrara seine dirigentische Ausbildung. Rasch machte er als Dirigent und Pianist auf sich aufmerksam, noch vor einigen Jahren war eine Aufnahme von Liszts Erstem Klavierkonzert mit Šumski als Solisten wieder einmal im SWR zu hören. Daneben startete er eine Laufbahn als Dirigent, wurde Leiter des Rumänischen Rundfunkchors, der Temeschburger Philharmonie (Filarmonica Banatul) und des Akademischen Sinfonieorchesters Bukarest. Auch unterrichtete er an der dortigen Musikhochschule. 1972 floh Šumski vor der Diktatur des Nicolae Ceaușescu – dem die Bundesrepublik, auch das sei erinnert, im Jahr zuvor das Bundesverdienstkreuz der Sonderstufe zuerkannt hatte – und ließ sich in Tübingen nieder. Als Neigschmeckter hat er sich nicht gefühlt, vielmehr sogleich und mit großer Energie das Musikleben der Universität, der Stadt, der Region und des Landes als Aufgabe begriffen.

Universitätsmusikdirektor in Tübingen

Šumski übernahm Chor und Sinfonieorchester der Universität und erarbeitete mit den Studierenden unterschiedlicher Fächer ein weit gefächertes Repertoire zwischen Barock und Neuer Musik. Abzustimmen blieb auf Seiten des Taktgebers wie auch der Taktnehmenden mitunter die Frage, was ein Dirigent sei und wie sich eine Aufführung anzuhören habe. Vor Kompromissen schreckte Šumski zurück – und vor seinem heiligen Eifer in Fragen der Kunst manch eine und einer seiner studentischen Vokalisten und Instrumentalisten. Er selbst äußerte hierzu einmal, seine Geduld verliere er eigentlich nur, wenn der Abstand seiner Vorstellungen und des musikalisch Realisierten allzu groß werde. Das beiderseitige Aufeinanderzugehen jedenfalls hat sich gelohnt: Šumskis Aufführungen sind bis heute legendär, und noch lange nach seinem Ausscheiden als Universitätsmusikdirektor brachten ihm nicht wenige der ehemals mit ihm Musizierende Verehrung, ja Anhänglichkeit entgegen. Den Akademischen Chor und das Akademische Orchester sowie die Camerata vocalis – den neu gegründeten Kammerchor der Universität – führte Alexander Šumski auf Tourneen durch zahlreiche Länder Europas und Afrikas und in die Aufnahmestudios von Rundfunkanstalten und Plattenfirmen. Mit Freude, ja Stolz, erinnerte Karla Pollmann bei der feierlichen Amtsübergabe als Rektorin der Universität am 18. Oktober an drei Plattenaufnahmen, bei denen sie in der Camerata vocalis mitwirkte, erwähnte Šumskis Glückwünsche an sie noch kurz vor seinem Tod und präsentierte als schönes Zeichen anhaltender Verbundenheit eine Schallplatte mit Chorwerken von Franz Liszt. Es gelang ihm auch, renommierte Solistinnen und Solisten zu gewinnen, darunter die Sopranistin Helen Donath, die Pianisten Bruno Leonardo Gelber und Gerhard Opitz, den Cellisten David Geringas oder den Hornisten Barry Tuckwell. Immer wieder erwähnt findet sich Anne-Sophie Mutter, die elfjährig erstmals unter Šumskis Leitung öffentlich mit einem Sinfonieorchester auftrat. Überhaupt galt sein Augenmerk der Nachwuchsförderung. An der Kreissparkasse Reutlingen betreute er über zwanzig Jahre hinweg eine Konzertreihe „Forum Junger Interpreten“. Mit der stimmtechnisch und klanglich hochversierten Camerata vocalis realisierte Šumski ambitionierte Einzelprojekte. Ausbrüche in die professionelle Musikwelt unternahm er gleichwohl: Von 1978 bis 1980 wirkte er neben seinen Tübinger Tätigkeiten als Chordirektor beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg. Mit Berufsmusikerinnen und -musikern gründete er das Reutlinger-Tübinger Collegium (RTC), mit dem er zumal neuere Musik – legendär seine Tübinger Erstaufführungen von Strawinskys Histoire du soldat oder Schönbergs Pierrot lunaire – realisierte. Auch Gastdirigate beim Orquesta National in Caracas, den Minsker Philharmonikern oder dem Nationalorchester des Rumänischen Rundfunks, Konzerte bei internationalen Musikfestivals und nicht zuletzt seine Aufnahmen mit dem damaligen SWR-Sinfonieorchester und dem Staatschor der Republik Lettland Riga legen davon Zeugnis ab. 

Neben Alexander Šumskis Können trat sein Wissen. In Orchesterseminaren am Musikwissenschaftlichen Institut führte er in das Repertoire ein, Mozarts Sinfonien und Klavierkonzerte etwa. Wissenschaftlich verbunden blieb er auch der Musik seines Herkunftslandes: Er publizierte zum Werk des zeitgenössischen Komponisten Liviu Goldeanu und legte ein Theoretikon der rumänischen Psaltike vor. 1984 promovierten ihn die Philosophische Fakultät der Universität Hamburg mit Studien zur rumänischen Kirchenmusik um 1900. Vor allem aber erweckte er die oberschwäbische Kirchenmusik des Barock neu zu klingendem Leben. Mit einer von der Robert-Bosch-Stiftung finanziell geförderten „Forschungs- und Editionsstelle für oberschwäbische Klostermusik“ zog er seit Mitte der 1980er-Jahre hunderte Kompositionen aus den ehemaligen Klöstern der Region, meistenteils gesammelt im Schwäbischen Landesmusikarchiv (LMA) am Musikwissenschaftlichen Institut, hervor. Er machte die in Handschriften und zeitgenössischen Drucken niedergelegte Musik in von ihm eingerichteten Notenausgaben der Praxis zugänglich, dirigierte sie, vielfach am Entstehungsort selbst, und nahm sie für den Rundfunk und Tonträger auf. Dem Werk Betschers, Prämonstratenserabt in Rot an der Rot, dessen Musik er in ihrer chromatisch und enharmonisch reichen Melodik, durchsichtigen Polyphonie und reizvollen Instrumentation als „Vorklang der Romantik“ (in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart) rühmte, galt dabei sein besonderes Interesse. Sein Lebenswerk betrachtete Šumski stets als unabgeschlossen. Noch in den letzten Jahren gab er in der Reihe „Musik aus oberschwäbischen Klöstern“ (COM+Musik+Verlag) die Missa da Sancta Francisca von Conradin Kreutzer sowie Betschers Messe C-Dur und Te deum in Ausgaben für die Musikpraxis heraus. Auf der Grundlage seiner umfangreichen Arbeitsmaterialien – heute weitgehend in der Diözesanbibliothek Rottenburg (Bearbeitungsvorlagen, Partituren, Klavierauszüge, Chorpartituren, Orchesterstimmen, wissenschaftliche Texte sowie Korrespondenzen, dazu Dokumentationen seiner Aufnahmen auf Tonträgern) – plante Šumski, immer wieder auch im Austausch mit Kollegen am Musikwissenschaftlichen Institut, die Gründung einer Bibliothek „Musica suevica“. Damit wollte er die oberschwäbische Klostermusik als Beitrag zum Erhalt der musikalischen Kultur des Landes der Öffentlichkeit und zumal interessierten Chorleitenden und Ensembles dauerhaft zugänglich machen. Verdienstvoll reihte sich Šumski auch in die traditionsreiche Tübinger Brucknerpflege seit August Halm und Emil Kauffmann ein, so im Rahmen eines Symposiums gemeinsam unter anderen mit Constantin Floros, Hans Küng und Manfred Hermann Schmid oder mit Aufnahmen von Bruckners Motetten. Der Austausch zwischen Wissenschaft und Kunst blieb ihm ebenso ein Anliegen wie der interdisziplinäre Dialog, den er in Veranstaltungen etwa mit Hans Küng, dem Historiker Hansmartin Decker-Hauff oder dem Slawisten Ludolf Müller pflegte. Die Vermittlung seiner Anliegen in und für die Öffentlichkeit nahm er in zahlreichen ehrenamtlichen Tätigkeiten wahr, so im Deutschen Komponistenverband, der Internationalen Schulmusikakademie Schloss Kapfenburg, im Landesmusikrat Baden-Württemberg, der Deutsch-Italienischen Kulturgesellschaft Venedig oder im Rundfunkrat des Südwestrundfunks. 

Aufzurufen bleiben schließlich Achtung und Ansehen, die Alexander Šumski innerhalb der Universität sowie in und weit über Tübingen hinaus genoss. Daneben stehen die offiziellen Ehrungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, die Ehrenbürgerschaft seiner rumänischen Heimatstadt oder die Würde eines Komturs des Ordens des Heiligen Silvester. Zu seinem siebzigsten Geburtstag gab Ulrich Siegle eine Festschrift heraus: Oberschwäbische Klostermusik im europäischen Kontext. Zum Achtzigsten musizierten in der zu seinen Ehren voll besetzten Stiftskirche Chor und Orchester des Collegium musicum unter Leitung von Philipp Amelung, Šumskis – nach dem tragischen Tod von Tobias Hiller – Nachnachfolger als Universitätsmusikdirektor, zusammen mit Kirchenmusikdirektor Ingo Bredenbach und begleitet von einer Laudatio von Prorektorin i. R. Ingrid Gamer-Wallert. Zum Requiem für den am 23. Juli in Tübingen Verstorbenen, umrahmt mit Musik von Nikolaus Betscher unter Amelungs Leitung, fanden sich mit seiner von ihm so überaus geliebten Familie noch einmal zahlreiche Freunde und Weggefährten in der Pfarrkirche St. Johannes ein. 

Res severa verum gaudium – der Wahlspruch, der seit mehr als zweihundert Jahren das Leipziger Gewandhaus ziert, lässt sich scheinbar leicht entziffern: Nur eine ernste Sache ist wahres Vergnügen. Doch wollte Seneca allein auf den Ernst der Kunst verweisen? Denkbar immerhin ist auch: Wahres Vergnügen ist eine ernste Sache. Indem er die Musik als Kunst ernst nahm und sich ihr lebenslang mit Lust und Vergnügen widmete, vermittelte Alexander Šumski beispielgebend beide Aspekte.