Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2010: Schwerpunkt
Biodiversität – mehr als ein politisches Konzept
Eine ethisch-philosophische Annäherung
Kennen Sie "Biodiversität" und wussten Sie, dass 2010 das internationale "Jahr der biologischen Vielfalt" ist? Fast zwei Dekaden nach der UN-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 und dem "Übereinkommen über die Biologische Vielfalt" (Convention on Biological Diversity, CBD) sind Naturschutz, Umweltpolitik und ökologische Forschung kaum noch ohne den Bezug auf diesen Ausdruck vorstellbar. Dies hat zwei entscheidende Gründe: Zum einen umfasst Biodiversität nicht nur die Artenvielfalt, sondern die Mannigfaltigkeit auf allen Ebenen – von Genen bis zu Ökosystemen. Zum anderen ist Biodiversität ein politisches Konzept, dass von vornherein Bedeutungen der ökonomischen Nutzbarkeit, der sozialen Gerechtigkeit und der Schutzverpflichtung – also der Nachhaltigkeit – beinhaltet.
Die Wortschöpfung "Biodiversität" wurde von namhaften Biologen bewusst konzipiert, um Politik und Öffentlichkeit die weltweiten Verluste an biologischer Vielfalt und die damit verbundenen entstehenden Gefahren deutlich zu machen. Verständlich wird der Erfolg, wenn die folgenden vier Aspekte berücksichtigt werden:
- "Biodiversität" profitiert von der gesellschaftlich hohen Wertschätzung der Naturwissenschaften, hier vor allem der Biologie;
- "Biodiversität" steht zugleich als Synonym für eine Reichhaltigkeit des Lebens in all seinen Erscheinungsformen, was weit über die Naturwissenschaften in andere kulturelle Dimensionen hinausreicht;
- "Biodiversität" ist eindeutig positiv konnotiert: alle, die sich für die Erhaltung der biologischen Vielfalt einsetzen, unterstützen ein wünschenswertes Ziel; die Biodiversitätskonvention und seit 2002 auch das deutsche Bundesnaturschutzgesetz formulieren neben den zahlreichen Wertdimensionen mit Blick auf den Menschen auch einen Eigenwert der biologischen Vielfalt.
- "Biodiversität" thematisiert die ökonomischen Potentiale der natürlichen, nicht zuletzt der genetischen Ressourcen für die zukünftige Entwicklung; aber auch die Fragen der gerechten Verteilung ihres Nutzes, insbesondere mit Blick auf ärmere Länder, die oft besonders reich an biologischer Vielfalt sind.
Die Trennung von Wissenschaft und Politik ist in gewisser Weise im Begriff der Biodiversität aufgehoben; diese Situation kann als "epistemisch-moralische Hybridbildung" bezeichnet werden.
Alle Lebewesen auf der Welt, ihre natürlichen Lebensräume, den Nutzen und die Güter, die sie erbringen, bilden die Basis unseres Reichtums, unserer Gesundheit und Wohlergehens. Trotz wiederholter globaler Zusagen, dieses Erbe schützen zu wollen, nimmt die biologische Vielfalt noch immer weltweit mit großer Geschwindigkeit ab. Dieser Verlust treibt ökologische Systeme immer näher an einen Punkt, von dem aus sie nicht mehr in der Lage sind ihre lebenswichtigen Funktionen zu erfüllen. Mit dem umwelt- und naturschutzpolitischen Begriff der Biodiversität sind sowohl Fragen nach Konzepten, Prioritätensetzungen, Reichtumsverteilung und politischer Macht als auch hinsichtlich der wachsenden Verantwortung für die Bewahrung biologischer Vielfalt verbunden.
Hier wird der Bezug der Biodiversität zur Ethik und zum Konzept der Nachhaltigen Entwicklung noch einmal sehr deutlich. Dies erfordert für die Forschung, Lehre und Umsetzung neue, inter- und transdiszplinäre Herangehensweisen. Dabei ist neben der fächerübergreifenden Zusammenarbeit auch die Einbeziehung nicht-wissenschaftlicher Stakeholder und Beteiligter vor Ort notwendig. Und ganz aktuell wird am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen ein Projekt zu den ethischen und naturschutzfachlichen Grundlagen der Biodiversitätsstrategie (NBS) und der Klimaanpassungsstrategie (DAS) der deutschen Bundesregierung abgeschlossen.
Mehr Informationen: http://www.izew.uni-tuebingen.de
PD Dr. Thomas Potthast