Dr. Giuliana Sorce forscht am Institut für Medienwissenschaft unter anderem zu digitalen Medienkulturen feministischer Medienwissenschaft und Netzaktivismus. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt hat sie sich vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie mit den Protestaktionen der Fridays for Future-Bewegung in der EU befasst. Die Studie entstand zusammen mit Dr. Delia Dumitrica, Associate Professor für Medienwissenschaft an der Erasmus Universität in Rotterdam.
„Aufgrund der Corona-Beschränkungen mussten soziale Bewegungen ihre Protestaktionen abrupt umdenken, um Auflagen wie Abstandsregelungen oder Versammlungseinschränkungen zu erfüllen. Auch Fridays for Future, die durch ihre wöchentlichen Schulstreiks für eine bessere Klimapolitik bekannt sind, haben ihre aktivistischen Strategien virtuell verlegt“, erklärt Giuliana Sorce. Sie und ihr Team haben die digitale Kommunikation der Aktivistengruppen auf Facebook analysiert, da diese Plattform in allen EU-Ländergruppen genutzt wird. Mittels einer Analyse der Posts auf den nationalen Fridays for Future-Facebook-Seiten konnten die Wissenschaftlerinnen systematisieren, wie die Organisatorinnen und Organisatoren aller 27 EU-Länder ihre Protest-Aktivitäten in digitale Formate umgewandelt haben.
„In der aktuellen Pandemie setzen Organisationsgruppen auf digitale Streikevents als Ersatz für die ikonischen Schulstreiks auf der Straße. Follower werden beispielsweise angeleitet, ein Bild mit einem Protestplakat zu machen und dieses als Profilbild, verbunden mit internationalen Hashtags wie #climatestrikeonline oder #digitalstrike, einzustellen“, beschreibt Sorce ihre Beobachtungen. „In einigen Ländern werden digitale und analoge Strategien kombiniert, beispielsweise im Hologrammstreik in Polen, dem Schuhstreik in Schweden oder den Balkonstreiks in Österreich, Ungarn und Bulgarien.“ Digitale Aktionen würden so im öffentlichen Raum sichtbar gemacht. Auch würden weitere Möglichkeiten digitaler Plattformen effektiv genutzt. Hier sind die Aktionen laut Giuliana Sorce aber weniger mit politischen Forderungen verbunden, sondern sollen eher der Gemeinschaftsbildung dienen.
Giuliana Sorce und Delia Dumitrica stellten in der Krisensituation eine Verschiebung des klassischen Aktionsrepertoires der Bewegung fest. Organisationsteams bauen verstärkt Beziehungen mit lokalen Medienpartnern (print, audiovisuell und online) auf, um eigene Inhalte zu produzieren, beispielsweise die neue Podcastreihe in Portugal oder die thematischen Videobotschaften zur Coronakrise in Italien. „Auch die Koalitionsarbeit mit anderen lokalen und nationalen Gruppen mit verwandten Themenschwerpunkten wird vorangetrieben“, meint Giuliana Sorce.
Mit dem ersten Post zur Coronakrise haben die Medienwissenschaftlerinnen im Zeitraum März bis April 2020 zunächst die einzelnen Facebook-Seiten der Ländergruppen analysiert. Für insgesamt 800 Posts zeichneten sie auf, welche Events, Kampagnen und Medieninhalte angeboten wurden. „Die 27 Länderkodierungen haben wir in einer zweiten Runde vergleichend systematisiert. Hieraus entstand eine Typologie digitaler Aktionsrepertoires, aufgeteilt in vier Hauptkategorien, die den Onlineaktivismus von Fridays for Future in der Coronakrise einfangen: 1. Protestaktionen (digitale Streiks, Online-Petitionen, etc.), 2. Informations- und Bildungsinhalte (Online-Seminare, Posts zur Klimakrise, etc.), 3. Gemeinschaftsarbeit und Zusammenhalt (Danksagungen, Quarantäne-Freizeitaktivitäten, etc.) und 4. Partnerschaftsarbeit (Teilen von themenbezogenen Inhalten anderer Gruppen, Kollaborationen mit Medienorganisationen, etc.).“, erklärt Sorce die angewandte Methodik.
Überraschend sei gewesen, dass manche Ländergruppen wie beispielsweise Irland oder Malta kaum digitale Angebote gemacht hätten. Und nur wenige nationale Gruppen hätten ihre Follower dazu ermutigt, auch über die Streiks hinaus zu Hause zu bleiben. Nur vereinzelt teilten Gruppen das bekannte „Flatten the Curve“-Diagramm, Rumänien und Bulgarien nutzten darüber hinaus den Hashtag #stayhome. „Außerdem nutzen die nationalen Fridays for Future-Gruppen kaum die transnationalen Vernetzungsmöglichkeiten sozialer Medien—das Teilen von digitalen Inhalten ist über Facebook sehr einfach, jedoch schauen die nationalen Fridays for Future-Organisator*innen wenig über den Tellerrand und beteiligen sich nicht an erfolgreichen digitalen Kampagnen anderer Ländergruppen“, so Sorce.
Johannes Baral