Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2020: Studium und Lehre

Die unendliche Weite des hohen Nordens

Lappland-Exkursion in der Biologie begeistert seit 70 Jahren

Bereits seit 1951 gibt es die botanische Lappland-Exkursion in der Tübinger Biologie – nur wegen Corona musste der 70. Jahrgang nun pausieren. Jeden Sommer macht sich eine Gruppe von Studierenden auf den Weg in den hohen Norden, um vor allem die Flora, aber auch die Tierwelt und die Geologie in der Arktis zu erleben. Zwei Tage Anreise mit dem Zug – um bewusst wahrzunehmen, wie weit es nach Nordschweden ist –, gefolgt von 160 km Wandern, wobei schwere Rucksäcke von Hütte zu Hütte geschleppt werden: Neben dem eigenen Gepäck teilen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch den Transport der gesamten Verpflegung für zwei Wochen, vom Milchpulver bis zur Nudelpackung. Gut 20 Kilo kann ein Rucksack zu Beginn schon mal wiegen. Und doch: Die Plätze sind meist ausgebucht, und Ehemalige geraten auch Jahre später noch ins Schwärmen: „Das war die beste Exkursion, die ich je gemacht habe“, sagt Ronja Ratzbor, die 2008 dabei war. So eine Tour sei immer noch ihr Traumurlaub. Doch was macht die Lappland-Exkursion so besonders?

Michael Koltzenburg, derzeit Technischer Assistent in der Abteilung Vegetationsökologie, hat die Exkursion von 1989 bis 2010 geleitet. Der Termin Ende August/Anfang September sei die beste Zeit zur Erkundung der Arktis, sagt er: „Da sind Pilze und Beeren da, die Mücken weg, der letzte Schnee getaut und es ist eine Landschaft voller Farben.“ Schon diese Weite des Nordens macht Eindruck. Ronja Ratzbor erinnert sich an ein besonderes Gefühl der Freiheit: „Man ist da, man guckt, man läuft – da stört nichts“, sagt sie. So könne man die Landschaft unmittelbar im Gehen verstehen und die Natur am eigenen Leib erfahren. In einem Vorbereitungsseminar werden die Studierenden fachlich auf die Exkursion eingestimmt, aber: „Richtiges Verständnis kommt erst draußen“, so Koltzenburg. Daher seien Exkursionen außerordentlich wichtig. „Wie ein Gletscher die Landschaft formt, verstehe ich, wenn ich mitten in dieser Landschaft stehe“, verdeutlicht Ronja Ratzbor. Auch für die Bestimmung von Pflanzen lasse sich viel aus Lappland mitnehmen: „In der Botanik lernt man, wie und wo man hinschauen muss, um etwas zu entdecken – die Exkursion eröffnet Zugänge, wie man auch dort Pflanzen bestimmt, wo die Vegetation eine andere ist“, sagt Ratzbor, die mittlerweile ihre Doktorarbeit in der Vegetationsökologie schreibt.

In der Art des Reisens unterscheidet sich die Lappland-Tour von anderen Exkursionen. Viele Studierende seien noch nie 14 Tage wandernd mit Selbstversorgung unterwegs gewesen, so Michael Koltzenburg. „Wenn man dann merkt, man schafft das: Das ist prägend“, sagt er. In diesem Sinne sei die Exkursion mehr als nur eine Lehrveranstaltung. Ratzbor erzählt vom See am Startpunkt Abisko, den sie zu Beginn der Wanderung als „saukalt“ empfunden hat – und am Ende als „warme Plörre“: Auch die Körperpflege im arktischen Wasser schafft man. Die Erfahrung in der Wildnis schweißt zusammen. Alle tragen etwas bei – auch mit der „Zwangsüberraschung“, die alle Teilnehmenden als Mitbringsel für die anderen im Gepäck haben müssen. So wurden sogar schon mal zwei Flaschen Geburtstagssekt durch Lappland getragen. Mit so viel Teamgeist hält der Kontakt zwischen Ehemaligen oft weit über das Studium hinaus.

Zu dieser Kontaktpflege hat Michael Koltzenburg viel beigetragen. Mit Recherchen in alten Tagebüchern und Exkursionsberichten, mit Telefonaten und Mails hat er sich an einer Dokumentation aller Ehemaligen versucht – rund 800 Namen kamen zusammen. So kennt er viele Geschichten seit den Anfängen der Exkursion, die Professor Erwin Bünning (1906-1990) initiiert hatte. Für Deutsche auf Reisen kurz nach dem zweiten Weltkrieg und mit dem damaligen Equipment war die Exkursion noch abenteuerlicher als heute. In den Anfangsjahren wurden auch mal Verwandte in Stockholm gebeten, Fresspakete für die Durchreisenden vorzubereiten. Bünnings Nachfolger in der Exkursionsleitung, Dr. Klaus Drumm, war es dann, der zum 40-jährigen Jubiläum das erste Ehemaligentreffen ausrichtete. Daran knüpfte Koltzenburg an; alle zehn Jahre organisiert er nun eine Feier. Für das Treffen zum 70. Exkursionsjahr, nun Corona-bedingt abgesagt, waren 200 Ehemalige angemeldet. Bleibt zu hoffen, dass sich die Feier im nächsten Jahr nachholen lässt – und dass 2020 die einzige Lücke in der langen Tradition der Lappland-Exkursion bleibt.

Tina Schäfer