Uni-Tübingen

„Breaking the game”: Wie man der Computerspielsucht entgegenwirken kann

Ein Interview mit Dr. Isabel Brandhorst, Leiterin der Forschungsgruppe Internetnutzungsstörungen

Zwei bis vier Stunden am Tag nutzen Kinder und Jugendliche durchschnittlich das Internet, Tendenz steigend. Was können Eltern tun, wenn ihr Kind so viel Zeit auf Social Media und mit Computerspielen verbringt, dass soziale Beziehungen, Bewegung und Spiel zu kurz kommen? Die Psychologin und Therapeutin Dr. Isabel Brandhorst hat sich früh auf den Schwerpunkt Kinder- und Jugendpsychologie spezialisiert. Mit ihrer Forschungsgruppe untersucht sie Ursachen für Internetnutzungsstörungen und entwickelt Angebote für Prävention, Diagnose und Behandlung solcher Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.

Was sind Internetnutzungsstörungen?

Internetnutzungsstörung ist ein Oberbegriff für fünf unterschiedliche Störungstypen: Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, Computerspielstörung, Kauf-Shoppingstörung, Pornographie-Nutzungsstörung und Glücksspielstörung. So steht es in der aktuellen Leitlinie zur Diagnostik und Therapie von Internetnutzungsstörungen der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie.

Tatsächlich haben viele Nutzende des Internets eine Mischnutzung der verschiedenen Anwendungen, ein Suchtverhalten dagegen in den allermeisten Fällen nur im Hinblick auf einen der genannten Bereiche. 

Die Computerspielstörung wird in der aktuellen Version des „Internationalen Klassifizierungssystems für Erkrankungen“ (ICD-11) von 2022 erstmals als eigene Erkrankung anerkannt, damit kann sie jetzt erstmals offiziell diagnostiziert, behandelt und von den Ärzten abgerechnet werden.  Die Glücksspielstörung wird bereits seit dem ICD-10 von 1994 als eigene Kategorie geführt.

Was sind Gefahren von Internetnutzungsstörungen?

Die Gefahren sind je nach Sucht unterschiedlich, gemeinsam ist allen Internetnutzungsstörungen jedoch, dass sie sehr zeitintensiv sind. Dadurch werden andere Lebensbereiche wie das Spielen, körperliche Bewegung oder Interaktion verdrängt, die für Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sehr wichtig sind.

Die Internet-Nutzungszeiten bei Kindern und Jugendlichen betragen durchschnittlich zwei bis vier Stunden pro Tag, bei potentiell Süchtigen können die Nutzungszeiten aber noch deutlich darüber liegen. Das ist eine sehr besorgniserregende Entwicklung.

Speziell bei der Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung ist das Suchtverhalten verbunden mit Depressionen, Essstörungen, Selbstverletzungen, suizidalen Gedanken, geringerem Selbstwertgefühl und einem schlechterem Körperbild der Heranwachsenden. Die negativen und schädlichen Aspekte der Nutzung von Social Media treten insbesondere bei Menschen mit einer verstärkten Tendenz zum sozialen Vergleich auf, beispielsweise bei Heranwachsenden, die sich permanent mit einer perfekten Welt und einem perfektem Körperbild vergleichen.

Unbestritten ist aber auch, dass Social Media gleichzeitig tolle Möglichkeiten bieten kann: Man kann neue Kochrezepte oder Bastelanleitungen ausprobieren, an Urlaubserlebnissen von Freunden teilhaben. Auf dieser Ebene bietet Social Media Spaß, Inspiration, soziale Verbundenheit, Zeitvertreib oder Ablenkung von Alltagssorgen, hier steht also die funktionale Nutzung im Vordergrund.

Für Eltern hat Ihre Forschungsgruppe die Reihe „Internetsucht: Eltern stärken!“ (ISES!) entwickelt…

Das von uns entwickelte Programm ISES! Kids richtet sich an Eltern, die ihre Kinder im Alter von ca. sechs bis zwölf Jahren bei der Entwicklung einer gesunden Nutzung von digitalen Medien unterstützen möchten. Es setzt den Schwerpunkt auf Medienerziehung, mit einem besonderen Fokus auf digitale Spiele, soziale Netzwerke und Video-Konsum.

Wir geben nicht „zehn goldene Regeln“ vor, sondern ISES! Kids soll Familien dabei unterstützen, gemeinsam eigene Mediennutzungsregeln zu gestalten. Denn jede Familie, jedes Elternpaar ist genau wie die Kinder individuell verschieden – einige Kinder haben eine gute Selbstkontrolle und weniger Interesse an Bildschirmmedien, andere Kinder sind total auf Medien fixiert und verzweifeln, wenn die Bildschirmzeit vorbei ist.

Wie kann es gelingen, solche Mediennutzungsregeln gut zu gestalten?

Die Eltern müssen Medienregeln, wie etwa limitierte Nutzungszeiten, auch inhaltlich begründen und nicht auf ein fertiges Regelhandwerk verweisen. Hierfür gibt ISES! Kids den Eltern Beispiele an die Hand. Gleichzeitig stärkt die gemeinsame Entwicklung von Regeln das Bewusstsein der Kinder, warum diese Regeln notwendig und sinnvoll sind. Dadurch entwickeln sie auch eine gewisse Compliance gegenüber den Regeln. 

Genau diese Compliance ist entscheidend für die Entwicklung eines gesunden Internet-Nutzungsverhaltens, denn grundsätzlich gibt es bei allen Verboten und Regeln immer Schlupflöcher und die vollständige Kontrolle durch die Eltern ist eine Utopie. 

Wenn die Kinder nicht einbezogen werden und die Eltern ohne Begründung Regeln und Verbote gegen den permanenten Widerstand des Kindes erzwingen, bleiben das Vertrauen und die Eltern-Kind-Beziehung letztendlich auf der Strecke. Es ist aber wichtig, dass die Kinder einen möglichst entspannten und lockeren Umgang mit den Medien erleben.

Ein weiteres Angebot ist ISES! Coach, eine Schulung für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie Familienhilfe oder Erziehungsberatungsstellen, die ISES! Kids in ihrer Elternarbeit anwenden wollen. Sie unterstützen Eltern von betroffenen Kindern, die allein mit dem ISES!-Kids-Programm nicht zurechtkommen. Wir wollen die Multiplikatoren motivieren, zusammen mit den Familien Medienpädagogik zu gestalten – auch ohne eine entsprechende Ausbildung.

Was ist, wenn Jugendlichen bereits eine Internetsucht entwickelt haben?

Für Eltern von Jugendlichen, die Symptome einer Internetsucht zeigen, gibt es das ISES!-Teens-Onlinetraining. Hier geht es nicht um Medienerziehung, sondern vor allem um Deeskalation, Selbstfürsorge, Co-Abhängigkeit, Eltern-Kind-Beziehung und Kommunikation.

Alle drei Angebote sind kostenfrei, nach Registrierung ist der Start des jeweiligen Programms sofort möglich: www.elterntraining-internetsucht.de

Reden wir über Ihr neues Programm zur Behandlung von Computerspielsucht…

Unser Programm „Breaking the Game” ist gedacht für Jugendliche ab zwölf Jahren und junge Erwachsene, die kritisch über ihren Computerspielkonsum nachdenken. Junge Menschen, die zwar der Meinung sind, sie benötigen keine Behandlung - die sich aber dennoch informieren und selbständig etwas verändern möchten. 

Das digitale Informationsangebot ist sehr interaktiv gestaltet: Spielerisch erfahren Betroffene, welche Bedürfnisse bei ihnen durch digitale Spiele erfüllt werden. Dies soll sie dabei unterstützen, eine alternative Betätigung zu finden, die dieses Bedürfnis erfüllt – als Voraussetzung für eine Reduktion von Gaming-Zeiten. Im Angebot sind außerdem entsprechende Suchtberatungsstellen bundesweit hinterlegt, die Nutzende bei Bedarf kontaktieren können.

Wir starten das Programm jetzt mit einer Pilotstudie, später wird das Angebot frei verfügbar sein. Ein zweiter Teil der Studie besteht aus Interviews mit Suchtberaterinnen und Suchtberatern, denen wir das Programm an die Hand geben für ihre Patientinnen und Patienten sowie für die Beratung.

Ganz wichtig: „Breaking the game” ist nicht gedacht, um die Sucht als Ganzes zu therapieren, sondern soll vielmehr Impulse setzen für diejenigen, die sowieso Hilfe im Internet suchen. 

https://www.medizin.uni-tuebingen.de/de/internetsucht-online-bruecke-bw 

Zum Schutz von Kindern wird aktuell viel über Altersbeschränkungen bei Social Media diskutiert…

Zur Beantwortung der Frage, ob Beschränkungen und Verbote einen positiven Einfluss haben, fehlen bislang entsprechende Studien. 

Ein Social-Media-Verbot für Unter-13-Jährige halte ich persönlich dennoch für sinnvoll, weil es in Einklang mit dem Vorsorgeprinzip stehen würde und die Verhältnismäßigkeit gewahrt bliebe. Nicht alle Kinder unter 13 Jahren sind auf bereits diesen Plattformen unterwegs, Ziel eines entsprechenden Verbots könnte daher sein, dass Kinder später mit Social Media in Berührung kommen. Davon würde ich mir erhoffen, dass Suchttendenzen reduziert und die psychosoziale Gesundheit eher bewahrt werden. Evidente Beweise dafür gibt es aber bislang nicht.

Bei den Über-13-Jährigen ist aus meiner Sicht ein generelles Verbot dagegen eine Illusion, sie sind bereits mit vielen Social-Media-Tools ausgestattet. Aber sie dürfen mit den Medien nicht allein gelassen werden. Sie brauchen Unterstützung bei der zeitlichen Begrenzung, der inhaltlichen Auswahl, der kognitiven und emotionalen Verarbeitung und der kritischen Prüfung von Inhalten und Quellen – um nur ein paar Beispiele zu nennen. 

Ein Verbot für Kinder ist sinnvoll, muss aber mit einer technischen Lösung verbunden sein. Außerdem braucht es eine Werbekampagne für Familien und eine klarere Haltung von staatlichen Institutionen wie zum Beispiel Schulen. Nur so können diejenigen, die ein solches Verbot umsetzen müssen, auch „mitgenommen“ werden.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass solche Regelungen in Deutschland gar nicht getroffen werden können. Für die großen Konzerne ist die EU zuständig und wir unterliegen dem Digital Service Act. Hier gibt es bereits Gesetze, die dabei helfen könnten, Social-Media-Angebote sicherer zu machen. Bis Gerichtsprozesse ausgefochten und Maßnahmen umgesetzt sind, können aber Jahre ins Land gehen. So lange können wir nicht warten.

Parallel gibt es Forderungen nach einem generellen Smartphone-Verbote in Schule. Was empfehlen Sie?

Für den Grundschulbereich würde ich ein solches Verbot befürworten. Befragungen zeigen, dass Grundschülerinnen und -schüler einem Verbot nicht abgeneigt sind, die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer sowie die Eltern befürworten es. Je älter die Schüler sind, desto mehr sprechen sich gegen ein Verbot aus.

Ich halte ab der 7./8. Klasse altersdifferenzierte Regeln für sinnvoll, wenn sie gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet werden. Wichtig sind dabei Regeln mit klarer Zielformulierung und passenden Begleitmaßnahmen.

Wichtig ist, dass wir die Schülerinnen und Schüler ab einem gewissen Alter nicht von unserer erwachsenen Alltagsrealität – einer Realität mit Smartphone – ausschließen. Sie müssen schrittweise herangeführt werden. Jüngere Jugendliche sollten ihr Smartphone nicht unbegrenzt und ungefiltert zur Verfügung haben. Schrittweises Heranführen heißt auch, Selbstkontrolle auszuprobieren und von außen begrenzt zu werden, wenn die eigene Kontrolle nicht gelingt.

Das Interview führte Maximilian von Platen

ISES! Ist eine Kooperation der Erwachsenenpsychiatrie und der Kinder- und Jugendpsychiatrie und ist entstanden auf Basis eines in Tübingen entwickelten Gruppentrainings für Jugendliche und junge Erwachsene mit Suchtsymptomatik. An der Entwicklung des ISES! Kids-Trainings waren Erziehungswissenschaftler, Gesundheitswissenschaftler, PsychologInnen, eine Ärztin eine Kommunikationswissenschaftlerin und eine Designerin beteiligt. Außerdem floss viel Feedback der teilnehmenden Eltern in die aktuelle Trainingsversion mit ein.

Forschungsgruppe Internetnutzungsstörungen