Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2015: Leute

Neuer Ehrensenator: der Soziologe Karl Ulrich Mayer im Interview

Er gilt als einer der bedeutendsten Soziologen weltweit: Professor Dr. Dr. h.c. Karl Ulrich Mayer erhält am 8. Mai die Ehrensenatorenwürde der Universität Tübingen. Mayer ist Mitbegründer der soziologischen Lebensverlaufsforschung, insbesondere mit seiner groß angelegten quantitativen Erhebung von Ausbildungs- und Berufskarrieren sowie Wohn- und Familienverhältnissen der Geburtsjahrgänge 1919-1971 in West- und Ostdeutschland, mit der er neue Standards in der Erforschung von sozialer Mobilität setzte. Von 1983 bis 2005 war er am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin tätig, als Direktor sowie Leiter des Forschungsbereiches „Bildung, Arbeit und gesellschaftliche Entwicklung“. 2003 nahm er einen Ruf der Yale-Universität an, von 2010 bis 2014 war er Präsident der Leibniz-Gemeinschaft. Maximilian von Platen hat Karl Ulrich Mayer für „Uni Tübingen aktuell“ zur aktuellen Situation des Forschungsstandorts Deutschland und auch zu seiner Studienzeit in Tübingen interviewt.

Die dritte Runde der Exzellenzinitiative endet 2017, eine Fortsetzung ist bereits politisch beschlossen. Wie wird diese Fortsetzung aussehen beziehungsweise wie sollte Ihrer Meinung nach diese Fortsetzung gestaltet werden?

Wichtig sind vor allem zwei Dinge. Erstens, dass die Finanzmittel der Exzellenzinitiative für die Hochschulen erhalten bleiben. Zweitens, dass eine kleinere Anzahl deutscher Universitäten weiterhin und noch verstärkt so ausgestattet wird, dass sie international sichtbar und wettbewerbsfähig sein können. Weitgehend unumstritten ist – nach entsprechenden Evaluierungen – die Fortsetzung der Exzellenzcluster. Umstritten ist allerdings die Form. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) möchte hier in die institutionelle Langzeitförderung einsteigen. Das wäre meiner Meinung nach ein Systembruch, weil die DFG satzungsgemäß auf die Projektförderung festgelegt ist. „Leibniz-Forschungszentren IN Hochschulen“ wären eine bessere Form dafür. Die Fortsetzung der Graduiertenschulen der Exzellenzinitiative ist wichtig, sollte aber als Daueraufgabe von Universitäten mit meines Erachtens eher disziplinären als interdisziplinären Akzenten im Rahmen ihrer Grundausstattung themenoffen gestaltet und finanziert werden. Die „dritte Förderlinie“ als Gestaltungs-, Planungs- und Managementkonzepte sollte man nicht fortsetzen, weil Universitäten sich ja nicht alle paar Jahre an neuen Konzepten ausrichten sollten.

Programme wie die Exzellenzinitiative und die Einwerbung von Drittmitteln werden für Forschungseinrichtungen immer wichtiger, aber gleichzeitig stagniert die Grundausstattung der Hochschulen seit Jahren. Viele Wissenschaftler haben nur kurzfristige, an die Projektdauer gebundene Verträge. Welche Vorteile bringt der Wettbewerb um Fördergelder? Und sehen Sie in diesem System auch Gefahren für den Wissenschaftsstandort Deutschland?

Es gibt seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten ein Missverhältnis zwischen der Grundausstattung und den Drittmitteln. Das hat sich mit der Exzellenzinitiative sogar noch verstärkt. Wettbewerb ist wichtig, darf aber nicht dazu führen, dass die Akquise von Forschungsmitteln wichtiger wird als die Forschung selber. Nicht zuletzt hat die Ausweitung von Drittmitteln dazu geführt, dass der überwiegende Teil davon für Doktoranden- und Postdoc-Verträge verwandt wird. Ich gehöre zwar nicht zu jenen, die denken, wir hätten zu viele Dissertationen. Das ist gut investierte Lebenszeit. Problematisch wird es aber, wenn junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach der Promotion in Projektstellen ohne Entwicklungsperspektiven gehalten werden. Die entscheidende Aufgabe der Hochschulpolitik der nächsten Jahre wird es sein, die Anzahl der Professuren zu erhöhen und das Lehrstuhlsystem in ein tenure-track-System umzubauen. Ich bin froh, dass das mittlerweile auch von der Bundesministerin für Forschung und Bildung, Frau Professorin Dr. Johanna Wanka, so gesehen wird.

Sie haben sich als Präsident der Leibniz-Gemeinschaft immer für eine Stärkung der Verbundforschung von Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen eingesetzt, nicht zuletzt bei der Einrichtung des bundesweit ersten Leibniz-WissenschaftsCampus in Tübingen im Jahr 2010. Welche Vorteile bietet die Verbundforschung und wie wird sich diese Form der Forschungskooperation weiterentwickeln?

Wir haben in der Leibniz-Gemeinschaft zwei neue Formen der Verbundforschung etabliert: die von Ihnen genannten „Leibniz-WissenschaftsCampi“ als thematisch fokussierte, lokale Verknüpfung von Leibniz-Instituten und Arbeitsgruppen einer Hochschule sowie die transregionalen und zum Teil transnationalen „Leibniz-Forschungsverbünden“ von Leibniz-Instituten untereinander, aber auch unter Beteiligung von Hochschulen und Firmen. Das Modell von Tübingen ist ein absoluter Renner und hat viele Nachahmer gefunden. Dies zeigt das große Potential einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Die Universitäten bieten eine Vielfalt fachlicher Kompetenzen, deren Kombination mit den Kernkompetenzen eines Leibniz-Instituts hohe Synergien schaffen kann, wie zum Beispiel in Tübingen in der Kombination der kognitiven Psychologie mit der Informatik, Medizin, Soziologie und Erziehungswissenschaft.

Bei Ihrer wissenschaftlichen Arbeit haben Sie sich unter anderem mit der Frage der sozialen Ungleichheit und der Ungleichheit der Bildungs- und Berufschancen beschäftigt. Was hat sich hier in den letzten 20 Jahren in Deutschland verändert, wo sehen Sie Handlungsbedarf für die Politik?

Die Ungleichheit der Bildungschancen hat in den 1960er- bis 1980er-Jahren abgenommen und stagniert seitdem auf einem im internationalen Vergleich relativ hohen Niveau. Manche Beobachter und Studien – wie ich selbst mit den Daten der Deutschen Lebensverlaufsstudie – sehen sogar wieder eine Verschlechterung. Aus der Benachteiligungsfigur des „katholischen Mädchens auf dem Lande“ – übrigens ein Befund der Tübinger Habilitationsschrift von Hansgert Peisert aus dem Jahr 1965 – ist der Bildungsrückstand der „türkischen Jungen aus der zweiten und dritten Migrantengeneration in den Großstädten“ geworden. Erfreulich ist allerdings, dass sich in den neueren PISA-Studien die Streubreite (Varianz) in den Schulleistungen nach sozialer Herkunft deutlich vermindert hat.

Sie haben in den 60er-Jahren in Tübingen studiert. Wie war die Atmosphäre damals? Welche Professoren und welche Ereignisse haben Sie damals besonders geprägt?

Ich habe 1964 und 1965 – finanziert durch eine Kriegswaisenrente – in Tübingen studiert. Es gab eine merkwürdige Mischung zwischen zum Beispiel den alten Traditionen einer großen Philosophischen Fakultät einerseits und einer Aufbruchs- und Reformstimmung andererseits. Verkörpert war das Letztere insbesondere durch Ralf Dahrendorf, dem damals 35-jährigen Ordinarius für Soziologie. Ich studierte aber auch Germanistik bei Friedrich Beissner (Poetik)und seinen Assistenten Herbert Kraft und Bjørn Ekmann (deutsche Lyrik und Kafka) und Philosophie bei Bruno von Freytag-Löringhoff (Kant und Logik) und Richard Schaeffler (Jaspers und Leibniz). Besonders beeindruckend, aber damals nur zum Teil voll „verdaut“ die Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten von Walter Jens (Probleme der modernen deutschen Prosa und Literatur), Ernst Bloch (Schopenhauer und Hegel, Lehre vom Unbewussten) sowie Hans Küng (Das Wesen der Kirche). Neben Dahrendorf hat mich sein Assistent Wolfgang Zapf – mein späterer Doktorvater und Mentor – mit seinen didaktisch ausgefeilten Seminaren zu Emile Durkheim, Max Weber und Theorien des sozialen Wandels am meisten geprägt. Die von mir besuchten Vorlesungen in Mikroökonomik und Geschichte haben weniger unmittelbare Spuren hinterlassen. Aber es gab auch solche ungewöhnlichen Seminare wie das Sozialpsychiatrische Praktikum in der Psychiatrischen Klinik mit Patienten von Gerhard Irle oder ein Seminar von dem Psychiater Wolfgang Kretschmer im Wohnzimmer bei sich zu Hause auf dem Dorf bei Tübingen über „Kultur und Psychologie der slawischen Völker“ – privatissime et gratis.

Welches war Ihr Lieblingsort in Tübingen?

Mein Lieblingsort in Tübingen war neben dem Markt, wo ich „Am Markt 11“ auf sechs Quadratmetern unter dem Dach wohnte, das damalige Soziologische Institut am Neckarufer. Ich hatte schon im 2. Semester als Studentische Hilfskraft für das Methodenpraktikum meinen eigenen Institutsschlüssel und verbrachte viele Stunden in der Bibliothek. Ich erinnere mich auch gerne an viele Nächte in einem Studentenkeller – irgendwo unterhalb des Schlosses. Dort brachten einige ältere Kommilitonen uns Neulingen bei, dass wir nicht glauben sollten, was wir am Tag in den Vorlesungen zum Beispiel von Dahrendorf über seine liberale Konflikt- und Herrschaftstheorie gehört hatten – also ein Anflug kritischer Theorie aus Frankfurt.

Weitere Links zur Deutschen Lebensverlaufsstudie:

http://www.wzb.eu/de/forschung/bildung-arbeit-und-lebenschancen/ausbildung-und-arbeitsmarkt/projekte/german-life-history-study

http://esr.oxfordjournals.org/content/current