Uni-Tübingen

Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800–1800)

Transfers und Transformationen – Wege zur Wissensgesellschaft der Moderne

Dynamisierung historischen Wandels durch Transfer und Transformation

Daher unterliegt der religiöse Normierungsprozess einer permanenten Aneignung, Transferierung und Transformation religiösen Wissens. Dies zeigt sich in der Rezeption, der Umgestaltung und dem kreativen Verständnis von Texten ebenso wie in der Produktion von Bildern und der Auseinandersetzung mit ihnen, nicht zuletzt in der Dynamik des religiösen Rituals. Somit begreift das Kolleg religiöses Wissen nicht als Block von dogmatisierten Inhalten, sondern als dynamischen Aushandlungsprozess, der Offenbarungsgehalte weiterträgt und damit umformt: Im Transfer, im doppelten Rückgriff jüngeren religiösen Wissens auf älteres und auf das Offenbarungswissen, liegt die Transformation begründet. So als Prozessbegriff verstanden, ist religiöses Wissen das Produkt eines komplexen Interaktionsprozesses zwischen Experten und Nicht-Experten, zwischen Männern und Frauen, zwischen den Gegenläufigkeiten intergenerationeller Aneignung, zwischen Christen, Juden und Muslimen. Das Produkt dieser fortwährenden Adaptionen ist im Sinne des Kollegs religiöses Wissen.

Damit ist die verbindende Leitfrage aller Forschungsansätze im Kolleg die nach Transfer und Transformation religiösen Wissens in der Vormoderne. Transfer bedeutet dabei die Weitergabe des religiösen Wissens, Transformation seine Aktualisierung in einem Form- bzw. Medienwechsel oder allgemeiner in der Anpassung an historischen Wandel. Beides erfolgt unter Anwendung verschiedenartiger Verfahren, denen daher die besondere Aufmerksamkeit des Kollegs gilt. Denn anders als das Offenbarungswissen konnte religiöses Wissen in unterschiedlichste Formen und Medien hinein tradiert werden. Es findet sich in Manuskripten und gedruckten Büchern, mündlichen Erzählungen, Bildern, Objekten, Handlungsroutinen und Ritualen.

Welche dieser Medien aber wie und wozu genutzt wurden, darin unterschied sich das Christentum nicht nur erheblich von Judentum und Islam; auch in den konkurrierenden Gruppenbildungen des Christentums selbst, unter denen die Trennung vom griechischen Osten und die nachreformatorischen Konfessionen besonders prägend wurden, blieben diese Fragen heftig umkämpft. So brachte der Transfer religiösen Wissens nicht selten auch eine Transformation seiner Inhalte mit sich. Die Untersuchung solcher mehrschichtigen Prozesse des Transfers und der Transformation, in denen sich vielfach die Interessen sozialer Gruppen oder Institutionen spiegeln, bietet einen Schlüssel für das Verständnis der religions- und kulturgeschichtlichen Dynamik Europas.

Denn schon die Zeitgenossen forderten neben aller Kontinuität auch renovatio und reformatio. Obwohl die Entwicklungspotentiale religiösen Wissens oftmals als Rückgriff auf einen idealen und intangiblen Urzustand konstruiert wurden, ging daraus gleichwohl eine Dynamik hervor, die nicht nur Stabilisierung, sondern auch Innovation und Neukreation forderte und bewirkte.

1. Rituelle Verfahren

sind als Wiederholungsprozesse in Vollzug und Handeln darauf angelegt, zeitliche und soziale Abläufe zu rhythmisieren. So erzeugen sie Stabilität und sind zunächst gerade nicht auf Dynamisierung angelegt. Insofern durch sie aber die im Offenbarungswissen verankerten Bezüge zwischen Gott, Mensch und Welt nicht nur vergewissert, sondern vor allem auch aktualisiert werden, haben sie zugleich Teil an dem beschriebenen komplexen Geschehen von Transfer und Transformation und somit auch an der Dynamisierung religiösen Wissens.

2. Kommentierende Verfahren

stehen in spannungsreicher Auseinandersetzung zwischen der Authentifizierung und Auratisierung von Texten, die den Zeitgenossen als von Gott kommend oder göttlich inspiriert galten, und menschlich initiierten und betriebenen Prozessen der Traditionsbildung und -verbreitung sowie der Verständnis- und Rezeptionserleichterung. Gerade hierdurch soll die religiöse Wahrheit bewahrt und vermittelt werden, kann aber zugleich auch erheblichen Modifikationen unterliegen. Die in diesem Spannungsfeld entwickelten konservierenden und kommentierenden Verfahren der vormodernen Kompositions- und Reproduktionskultur haben daher wesentlich zu Transfer und Transformation von Offenbarungswissen bzw. religiösem Wissen beigetragen.

3. Ästhetische Verfahren

zeichnen sich dadurch aus, dass die spezifischen Mittel der jeweiligen Darstellung sowie deren Medialität besondere Beachtung erhalten und als eigene Aussageebene genutzt und gewertet werden. Die damit verbundene Reflexion auf die Eigenlogik ästhetischer Mittel wird in der Forschung häufig im Kontext jener Autonomieerzählung der Kunst gesehen, in der die Kunst sich von fremden Zwecken und Funktionen befreit habe und insofern ,zu sich selbst’ und ihren eigensten Möglichkeiten gekommen sei – ein Vorgang, der in der Sattelzeit um 1800 sein eigentliches Ziel erreicht habe. Insbesondere die Lösung von religiösen Inhalten wird in diesem Zusammenhang als entscheidender Emanzipationsprozess verstanden. Ästhetisierung und Säkularisierung erscheinen in dieser Lesart als zwei Seiten derselben Münze. Mit Hilfe des Forschungskonzepts des religiösen Wissens kann das Graduiertenkolleg hier kritisch ansetzen und sehr konkret alternative Deutungsperspektiven aufzeigen. So widersetzt sich der Ansatz, ästhetische Verfahren als einen wesentlichen Modus für Transfer und Transformation religiösen Wissens zu fokussieren, dem teleologischen Deutungsmodell, indem von einer anhaltenden und wechselseitig produktiven Relation von religiösen Inhalten und ästhetischer Ausgestaltung ausgegangen wird.

4. Empirische Verfahrensweisen

orientieren sich an Beobachtung und Erfahrung. Man hat sie mit Blick auf die Vormoderne gerne religiösen Diskursen gegenübergestellt, in dem Sinne, dass sich die europäische Wissensgesellschaft vom ,Glauben‘ zum ,Überprüfen‘, von der ,Exegese‘ oder dem ,Kommentar‘ zur eigenen Anschauung weiter entwickelt habe. Doch auch im frühen und hohen Mittelalter war das über Tradierung und Kommentar von Texten erworbene Wissen eng korreliert mit empirisch erworbenem Wissen. Diese Korrelation bestimmte den Bezug von religiöser Deutung und Weltdeutung in der gesamten Zeit der Vormoderne. Es ist somit von einer anhaltenden Auseinandersetzung zwischen religiös und empirisch fundiertem Wissen auszugehen, nicht nur von einem verzögerten Siegeszug einer (säkularisierten) Empirie in einem christlich geprägten Umfeld.

Systematisierung der Wirkungspotentiale

Die Verfahren sind, wie die Quellen zeigen, in ihrer Eigen- wie Wechselwirkung und Interferenz in hohem Maß dafür verantwortlich, ob aus Transfers und Transformationen nicht nur allfällige Veränderungen, sondern tatsächlich Dynamisierungen des Wissens hervorgehen, d.h. ob die Transformationen in der Perspektive der Zeitgenossen zu überzeugen vermögen und sich durchsetzen. Um die Organisationsmechanismen solch gelingender Transfer- und Transformationsprozesse interdisziplinär beschreibbar zu machen, sind die ausschlaggebenden Wirkungsfaktoren zu analysieren und zu systematisieren. Hierbei zeichnen sich drei Aspekte als besonders relevant ab, die sowohl auf die Ebene der Verfahrensweisen als auch auf die Ebene der Akteure Bezug nehmen:

1. Pluralität und Interaktion

Religiöses Wissen erweist sich in der Vielfalt seiner Adaptationsprozesse als genuin pluraler ,Wissensfond‘. Die Pluralität gründet in zweierlei: Zum einen in dem breiten Spektrum der Transformationsakteure, das von Experten zu Nicht-Experten, von Institutionen zu Einzelnen, von leisen Stimmen bis zu Stimmen in weitgespannten Resonanzräumen reicht; zum anderen, gleichwohl damit verbunden, in der Vielfalt an medialen Zugriffsweisen, über die die Transformationsprozesse ausagiert werden. Beide Aspekte bilden die Grundlage der genannten differenten Verfahren. Entscheidend ist dabei, dass die einzelnen Verfahren nicht nur je spezifische Charakteristika entwickeln, sondern auch gegenseitig voneinander profitieren, einander überschreiben, stützen oder auch destruieren, d.h. gerade in ihrer Interaktion ein außerordentlich flexibles Instrumentarium darstellen, um religiöses Wissen in der Spannung zum jeweiligen Offenbarungswissen zu generieren, es in veränderten gesellschaftlichen Kontexten zu implantieren und ihm Autorität zuzuschreiben. Fokussiert werden mit der Pluralität der Verfahren und ihrer produktiven Flexibilität schließlich nicht nur die subtilen Bedingungen der Formierung und des Wandels religiösen Wissens. Thematisiert wird damit zugleich auch eine distinkte Qualität religiösen Wissens selbst, die dessen Spezifik im Unterschied zu anderen Wissensformationen hervortreten lässt. Ebendiese Pluralität der beteiligten Verfahren stellt – wie zu zeigen sein wird – eine der wesentlichen Ursachen für die Dynamik bzw. Integrationsfähigkeit religiösen Wissens über Jahrhunderte hinweg dar.

3. Normierung und Stabilisierung

Alle Verfahren lassen sich, explizit oder implizit, als Versuche der Institutionalisierung des jeweiligen Status religiösen Wissens verstehen, insofern sie auf dessen Normierung und soziale Stabilisierung zielen. Die Prozesse sozialer Gruppenbildung und ihrer perpetuierten Praxis sind die Voraussetzung dafür, dass den Generierungsverfahren eine zugleich nachhaltige sowie dynamische Wirkungsgeschichte beschieden ist. Denn die Versuche der Institutionalisierung tendieren, aufgrund ihrer Pluralität, ihrerseits wieder zur Agonalität.

Während in der ersten Phase des Kollegs vornehmlich danach gefragt wurde, wie religiöses Wissen in Institutionen und sozialen Gruppen produziert wurde, wird nun die Blickrichtung verschoben: Wie können Verfahrensweisen sich selbst institutionalisieren, so dass eben dadurch jene Gruppen, die für ein bestimmtes religiöses Wissen einstehen, Autorität und Deutungsmacht gewinnen und Handlungsorientierung produzieren?

Gefragt wird damit nicht allein, wie eine Institution Wissen handhabt, also: erarbeitet, umformt, didaktisch vermittelt. Sondern darüber hinaus wird gefragt, wie Wissensbestände prozessual so institutionalisiert werden können, dass man sie erfolgreich genau jenen Verfestigungsprozessen der Selbstpermanenz des Vollzugs zu unterwerfen vermag. Eben hier übernehmen die rituellen, kommentierenden, ästhetischen oder empirischen Verfahren eine entscheidende Funktion.

Institutionalisierung, verstanden als Selbstpermanenz des Vollzugs, wirkt dabei auf eine doppelte Art und Weise dynamisierend: Die gelingende Institutionalisierung hat sich beständig selbst zu beweisen. Um dies zu erreichen, ändert sie immer wieder ihre Verfahrensweisen, steigert gegebenenfalls deren Subtilität, erhöht die Umlaufgeschwindigkeit des Wissens und vergrößert die Gruppe ihrer Adressaten. In diesem Sinn kann die Institutionalisierung in eine ,Reform’ münden. Unterstützen die Verfahrensweisen jedoch die Selbstpermanenz des Vollzugs nicht, sondern überschreiten oder durchbrechen diese, kommt es zu herausfordernden Abweichungen, die die Normierung und Stabilisierung nun umgekehrt gefährden und als ,Häresie’ oder ,Schisma’, aber auch als ,Synkretismus’, ,Skeptizismus’, ,Säkularisierung’ konzeptualisiert werden – wiederum in enger Anlehnung an zeitgenössische Perzeptionen.

 

Heuristischer Mehrwert

Die im Laufe der Arbeit des Kollegs herausgearbeiteten zwei Operationalisierungsschritte – Analyse der Verfahren und Analyse ihrer dynamisierenden Wirkungsfaktoren – erlauben es, das Beschreibungsinstrumentarium zunehmend auszudifferenzieren und dadurch ein heuristisches Beschreibungsmodell zu entwickeln, das die Bedeutung religiösen Wissens für die Herausbildung der modernen Wissensgesellschaft unabhängig von teleologischen Erklärungsmustern abzubilden vermag. So fördert die Analyse der unterschiedlichen Transformationsverfahren Detailbeobachtungen, die den Entwurf eines einsinnig-linearen Beschreibungsmodells auf drei Ebenen verhindern:

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