Uni-Tübingen

Aktuelles

16.08.2018

Bewilligung eines neuen DFG-Forschungsprojektes in der Tübinger Sinologie

Die Übertragung westlicher Naturwissenschaft, Technologie und Medizin ins China der späten Ming-Zeit: Konvergenzen und Divergenzen im Lichte des Kunyu gezhi (1640) und des Taixi shuifa (1612)

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat Prof. Hans Ulrich Vogel, Lehrstuhl für Geschichte und Gesellschaft Chinas, Abteilung für Sinologie (Asien-Orient-Institut, Philosophische Fakultät), der Eberhard Karls Universität Tübingen eine Sachmittelbeihilfe in Höhe von über 0,5 Mio. Euro für ein neues Projekt für die Jahre 2018-2021 bewilligt. Die Arbeiten zu diesem Vorhaben wurden im Juni dieses Jahres aufgenommen. 

Anlass für diesen Antrag war die sensationelle Wiederentdeckung der chinesischen Version von Georgius Agricolas (1494-1555) De re metallica (1556). Über 350 Jahre lang war diese vom Ming-Beamten Li Tianjing (1579-1659) initiierte und vom berühmten Kölner Jesuitenmissionar Johann Adam Schall von Bell (1592-1666) beaufsichtigte Übertragung dieses Bergbau- und Hüttenklassikers verschollen. Ein Ziel des Vorhabens ist es, das Kunyu gezhi (Untersuchungen des Erdinnern; 1640), so der chinesische Titel, samt aller wichtigen Begleitdokumente ins Englische zu übersetzen. Damit soll die höchst selektive und komplexe jesuitische Vorgehensweise bei der Übertragung dieses Werkes geklärt werden, sowohl hinsichtlich der Auswahl der westlichen Referenztexte als auch der Berücksichtigung neuer geologischer und mineralogischer Ideen und Konzepte. Dies wird uns einmalige Einblicke in die Strategie der damaligen Übertragung von nützlichem und verlässlichem europäischen Wissen nach China geben. Weiterhin ist zu erkunden, wie die Übersetzung auf chinesischer Seite aufgefasst und rezipiert wurde und was das Schicksal dieses bergbaulichen und metallurgischen Manuskripts bis zu seiner kürzlich erfolgten Wiederentdeckung war. 

Als Vergleich zum Kunyu gezhi werden wir in methodisch ähnlicher Vorgehensweise einen anderen wichtigen, bis jetzt wenig beachteten Text, das Taixi shuifa (Hydromethoden des Großen Westens; Vorwort 1612), eingehend untersuchen. Dieses auf heterogenen Quellen beruhende Werk wurde vom Jesuitenmissionar Sabatino de Ursis (1575–1620) mündlich formuliert, vom berühmten Beamten und christlichen Konvertiten Xu Guangqi (1562-1633) in Chinesisch niedergeschrieben und von Li Zhizao (1565-1630), einem anderen be¬deutenden christlichen Gelehrten-Beamten, überarbeitet. Es handelt sich um eine systematische, aristotelisch geprägte Abhandlung sowohl der theoretischen als auch praktischen Aspekte von Wasser und Wasserwirtschaft, darunter Wasserhebemaschinen und meteorologische Phänomene, aber auch der medizinischen Nützlichkeit von heißen Quellen und der Destillation von Heilpflanzen. 

Die umfassende Beschäftigung mit den beiden ungewöhnlichen Traktaten des Kunyu gezhi und des Taixi shuifa, die unterschiedlichen technischen und wirtschaftlichen Sektoren gewidmet sind, aber Überschneidungen vor allem bezüglich Wasserhaltung und Naturphilosophie aufweisen, erfolgt vor dem Hintergrund von Erkenntnissen, wie sie von der Forschung über den Wissenstransfer von West nach Ost während des Zeitalters der frühen Globalisierung erarbeitet wurden. Zudem werden diese Ereignisse des frühen 17. Jh. mit denjenigen aus späterer Zeit verglichen werden, insbesondere den Aktivitäten der protestantischen Missionare im späten 19. Jh. Unsere Fallstudien werden umfassend die historische Kontextualisierung, d.h. die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen und Entwicklungen, berücksichtigen und Konvergenzen und Divergenzen zwischen China und Europa beleuchten. Ein abschließendes Ziel ist es, auf der Basis dieser mikrohistorischen Fallstudien und der Herangehensweise einer komparatistischen makrohistorischen Soziologie zur Klärung der Frage nach der Entstehung der "Großen Divergenz" zwischen Europa und China in der Frühen Neuzeit beizutragen.

Innerhalb dieses DFG-Projektes werden Professor Dr. Hans Ulrich Vogel und Frau Dr. Cao Jin für das Teilprojekt Kunyu gezhi, Sabine Kink, M.A., für dasjenige des Taixi shuifa zuständig sein. Es handelt sich um ein bereits in der Zusammenarbeit erfahrenes Team, das in Kürze die Forschungs- und Lehrbuchmonographie Die Falschmünzerbande vom Alten Rabenhorst in Guizhou (1794) in Texten und Kontexten: Chinesische Dokumentensprache der Qing-Zeit (1644-1911) veröffentlichen wird. 

Ein weiteres organisatorisches und strategisches Kennzeichen des Vorhabens ist die internationale Kooperation, die mit Forschern und Einrichtungen in Deutschland, Europa, US und Asien gepflegt wird. Eine besondere Stellung nimmt hierbei Macau ein, d.h. das Macau Ricci Institute und speziell die University of Macau (UMAC). An der Abteilung für Geschichte der UMAC wird unter der Leitung von Prof. Beatriz Puente-Ballesteros ein Parallelprojekt durchgeführt, welches als Multi-Year Research Grant von der Universität Macau gefördert wird und sich mit Johann Schrecks (Deng Yuhan, 1575-1630) Taixi renshen shuogai (Ein Abriss von Erläuterungen über den menschlichen Körper aus dem Großen Westen; nach 1620, von Bi Gongchen 1643 publiziert) auseinandersetzt. Zudem werden auch dort akademische Abschlussarbeiten entstehen, die im Umfeld der Thematik des Gesamtvorhabens angesiedelt sind. Weitere Projektpartner an der UMAC sind Prof. António Vasconcelos de Saldanha mit einer Studie über das Beijinger Tagebuch von Sabatino der Ursis und Prof. Tang Kaijian mit einer Zusammenstellung von in chinesischen Quellen enthaltenen Nachrichten über die Aktivitäten der jesuitischen China-Missionare.

Es wird angestrebt, beim Brill-Verlag eine besondere wissenschaftliche Reihe zu gründen, die sich speziell der Thematik der Übertragung westlicher naturwissenschaftlicher, technischer und medizinischer Traktate ins Reich der Mitte vom 17. bis ins frühe 20. Jh. widmet. 

Dieses Projekt, welches nicht nur von außerordentlicher Bedeutung für die Geschichte der Ost-West-Beziehungen, sondern auch für die deutsche Kulturgeschichte ist, steht unter der Schirmherrschaft des UNESCO Sub-Committee on Education and Research (SCEaR), Memory of the World Programme.

Hans Ulrich Vogel
 

Zurück