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27.06.2024
Was haben Barocklieder mit unserer heutigen Kultur zu tun?
Interview mit PD Dr. Astrid Dröse, Deutsches Seminar der Universität Tübingen, Stipendiatin der Daimler und Benz Stiftung
Das 17. Jahrhundert war eine Epoche des Liedes. Auf bürgerlichen Festen, in der höfischen Kultur, im religiösen und studentischen Leben – überall wurde gesungen. Das Barocklied prägte die Alltagswelt der Menschen sämtlicher Schichten. Doch was bedeutet das für unser Leben heute? „Das deutsche Barocklied im europäischen Kontext“ lautet das Forschungsgebiet der Literaturwissenschaftlerin PD Dr. Astrid Dröse vom Deutschen Seminar der Universität Tübingen. Ihr Projekt wird im Rahmen des Stipendienprogramms für Postdoktoranden und Juniorprofessoren der Daimler und Benz Stiftung seit 2022 mit einer Summe von 40.000 Euro gefördert.
Stiftung: Frau Dr. Dröse, wie sind Sie auf die Idee gekommen, das deutsche Barocklied zu erforschen? Das ist ja ein nicht ganz naheliegendes Thema.
Dröse: Neben der Literatur habe ich mich schon immer für Musikinteressiert, viele Jahre lang habe ich auch Saxophon in einer Big Band gespielt. Ich wollte ganz konkret die Vorgeschichte unserer modernen Kultur erforschen: Wie haben Menschen anderer Epochen ihre Feste gefeiert, wie haben sie musiziert und welche Lieder haben sie gesungen?
Stiftung: Wie sind Sie dann im 17. Jahrhundert gelandet?
Dröse: Es gibt noch viele unerforschte Quellen zur Kulturgeschichte des Alltags in der Frühen Neuzeit. Wir wissen mittlerweile aber, dass das 17. Jahrhundert eine sehr liederfreudige Epoche war – es ist eine besonders spannende Phase. Ich konnte die Gesangskultur dieser Zeit rekonstruieren und zeigen, dass die Menschen damals sogar Texte, die ohne Musik abgedruckt sind, tatsächlich gesungen haben. Sie brauchten keine Noten, weil sie die Melodien zu Liedern im Kopf hatten, die in ganz Europa verbreitet waren.
Stiftung: Warum gab es in der Barockzeit so einen Liederboom?
Dröse: Das geht vor allem auf den sogenannten Vater der deutschen Dichtung zurück: Martin Opitz (1597–1639). In seinem rund 40-seitigen „Buch von der Deutschen Poeterey“ aus dem Jahr 1624 hat er den Wert der Poesie dargelegt und das Deutsche als eine für die Dichtkunst geeignete Sprache identifiziert. Er stellte metrische und sprachliche Regeln für das Deutsche auf und illustrierte diese mit Beispielen. Sein Ziel war es, das Niveau der deutschen Sprache zu steigern – in der Literatur überhaupt und auch in Liedtexten. Natürlich gab es auch vor Opitz eine lebendige Liedkultur, aber durch seine Reform wurden die Texte einfach noch besser.
Stiftung: Um welche Lieder ging es damals?
Dröse: Was die Vokalmusik betrifft, war Italien in der ganzen Frühen Neuzeit prägend. Hier wurde ja auch die Oper entwickelt. Daneben spielte Frankreich, das damals die Hochkultur von Versailles erlebte, eine wichtige Rolle. Das betuchte Bürgertum im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation war neben den Waren aus dem europäischen Ausland auch an dessen Kunst- und Musikschätzen interessiert. Opitz und seine Mitstreiter sorgten quasi für den Kulturtransfer ins Deutsche.
Stiftung: Wie muss man sich das vorstellen?
Dröse: Opitz hat unter anderem Opernlibretti und Liedtexte mit viel Sorgfalt ins Deutsche übersetzt; auch mit dem berühmten Komponisten Heinrich Schütz (1585–1672) hat er eng zusammengearbeitet. Opitz’ Ideen und Arbeiten wurden in kurzer Zeit ein Riesenerfolg, sodass andere seinem Beispiel folgten. Der Weg zur Klassik bis hin zu Goethe und Schiller wäre ohne ihn nicht denkbar. Anders gesagt: Die neue deutsche Literatur beginnt mit Opitz.
Stiftung: Wer trug damals zu seinem Erfolg bei?
Dröse: Die deutschen Dichter feierten Opitz in Anlehnung an Martin Luther über ein Jahrhundert lang als den „Reformator der Dichtung“ – insbesondere im protestantischen Raum. Diese Reform hat sich sofort auf die Liedkultur ausgewirkt. Mittlerweile habe ich rund 80 Bücher ausgewertet, die nach seiner Zeit entstanden sind. Sie beginnen meist mit großer Verehrung und Lobgesängen auf den „Vater der deutschen Literatur“.
Stiftung: Hatte Opitz nun größeren Einfluss auf die Sprache oder die Musik?
Dröse: Auf beides, denn das hing zusammen. Die modernen Komponisten seiner Zeit waren auf der Suche nach deutschen Texten hoher Qualität. Sie stürzten sich regelrecht auf die neuen Dichtungen. Die Liederbücher, beispielsweise die „Arien“ des Königsberger Musikers Heinrich Albert (1604–1651), trugen so wesentlich zur Verbreitung der Reform bei. Opitz war andersherum ein sehr musikalischer Dichter, der mit Melodien im Ohr dichtete. Zugleich war er ein geistreicher Wortschöpfer und motivierte auch seine Zeitgenossen dazu, kreativ mit der deutschen Sprache umzugehen. Es kam ihm auf den Wert der Muttersprache an und damit auch auf die Reinigung von überflüssigen Fremdwörtern. Die Begriffe „Anschrift“ für Adresse oder „Leidenschaft“ für Passion, die der Barockdichter Philipp von Zesen (1619-1689) in der Folge vorschlug, verwenden wir noch heute. Ausdrücke wie „Gesichtserker“ für die Nase oder „Zeugemutter“ für Natur haben sich dagegen nicht durchgesetzt.
Stiftung: Werfen wir einen Blick auf heute. Weshalb lohnt die Beschäftigung mit dem Barock?
Dröse: Meine Forschung bietet die Chance, in eine andere Welt einzutauchen und historisch zu erkunden, was unser heutiges kulturelles Leben prägt. In den damaligen Liedern spiegeln sich Haltungen zu Geschlechterverhältnissen, Esoterik und Magie, Krieg und Frieden, Liebe und Tod. Manches ist uns vertraut, aber vieles ist uns auch völlig fremd. Dazu kommt, dass wir heute in einer Zeit leben, in der Musik vor allem passiv konsumiert wird; manche Schulen wollen den Musikunterricht sogar weiter reduzieren. Dabei wissen wir aus neurologischen Studien, dass Singen auf Kinder und Demenzkranke heilsam wirken kann: Es schafft soziale Interaktion und aktiviert die Spracherinnerung über das emotionale Gedächtnis. Bis weit ins 19. Jahrhundert hat Singen über Generationen hinweg Gemeinschaft gestiftet sowie der Meditation, dem Erinnern, der Unterhaltung und der Geselligkeit gedient. Ein Wiederentdecken lohnt sich!
Stiftung: Ihr Forschungsgebiet selbst bewegt sich ja zwischen Musik-, Literaturwissenschaft und Geschichte. Wollen Sie es noch weiter öffnen?
Dröse: Gerne möchte ich es künftig auch mit Erziehungswissenschaften, Neurologie und Psychologie verbinden. Das Stipendium hat meine Arbeit gerade im interdisziplinären Sinn bereits stark vorangebracht. Ich konnte nicht nur historische Archive und Bibliotheken aufsuchen, sondern bereits erste Workshops mit Wissenschaftlern anderer Fachrichtungen abhalten und sie für meine Forschung interessieren – zum Beispiel auf einer Veranstaltung über die Liedkultur im Ostseeraum.
Stiftung: Im historischen Pfleghofsaal in Tübingen haben Sie kürzlich das Konzert „Klingender Opitz – Musik einer Wendezeit“ veranstaltet und dabei das 400. Jubiläum des „Buchs von der deutschen Poeterey“ gewürdigt.
Dröse: So eine Chance hat man ganz selten. Dank der Fördergelder der Stiftung bot sich die einzigartige Gelegenheit, den Sound des Barocks zum Leben zu erwecken, sodass man ein klangliches Bild jener Zeit erhält. Durch das Konzert konnten wir verborgene Schätze der deutschen Barockliedkunst heben.
Stiftung: Sie verbinden Epochen, Genres, Wissenschaften, Menschen...
Dröse: Und das möchte ich auch weiterhin tun! In der Forschung gilt das 18. Jahrhundert als eine Zeit ohne Lieder – ein Urteil, das wahrscheinlich zu revidieren ist. Denn auch Goethes Lyrik ist als Folge der Frühen Neuzeit wohl stärker von Musik beeinflusst, als man gemeinhin denkt.
Presseinformation der Daimler-und-Benz-Stiftung
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