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27.11.2023

Jubiläum der Lappland-Exkursion in der Biologie

Rückblick auf 73 Jahre einer besonderen Lehrveranstaltung

Eindrücke aus Lappland

Am 4. November 2023 fand auf der Morgenstelle eine weitere Jubiläumsfeier für die Ehemaligen der botanischen Exkursion nach Schwedisch-Lappland statt. Nachdem die für 2020 geplante Feier zum 70-jährigen Jubiläum wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden musste, konnte nun auf 73 Jahre zurückgeblickt werden. Zwei Fachvorträge reicherten die Feier an: Dr. Ronja Wedegärtner (Oslo) referierte über die „Die Effekte von Wanderwegen in der Abisko-Region auf die Vegetation“ und Dr. Benoît Sittler (Universität Freiburg) berichtete über sein seit 1988 laufendes Langzeitprojekt in Grönland: „Von Lemmingen, Schnee-Eulen und Eisbären - Grönland im Griff des Klimawandels“.

Begründer Erwing Bünning

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Erwin Bünning begründete die Exkursion der Universität Tübingen wenige Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs im Jahr 1951 zu einer Zeit, da Reisen sicherlich größere Schwierigkeiten bedeute, als es inzwischen der Fall ist. Mit großer Weitsicht führte er auf Exkursionen dann in den Jahren bis 1978 im Sommer, zusätzlich zwischen Ende der 1950er-Jahre bis 1969 auch im Winter, Studierende aus der Umgebung seines Lehrstuhls für Pflanzenphysiologie in den hohen Norden Schwedens, um die arktisch-subarktischen Lebensräume vorzuführen und mit den Teilnehmenden buchstäblich zu erleben.

Bünning, geboren 1906, war ab 1931 Privatdozent an der Universität Jena, 1938 wurde er außerordentlicher Professor an der Universität Königsberg und 1941 an der Universität Straßburg. Von Königsberg aus nahm er, wohl 1936 oder 1937, an einer Lappland-Exkursion teil. Die letzten Kriegsjahre verschlugen Bünning nach Nordnorwegen. Diese beiden so unterschiedlichen Erlebniswelten prägten sich ihm so tief ein, dass sie ihn nicht mehr losließen. 1945 wurde er ordentlicher Professor an der Universität zu Köln. 1946 wechselte er als Ordinarius und Direktor des Botanischen Instituts und Botanischen Gartens an die Universität Tübingen. Von 1952 bis 1953 amtierte er hier auch als Rektor der Universität, 1971 wurde er emeritiert. Erwin Bünning starb 1990.

Expeditionserfahrung in den Tropen

Bünning schrieb über eine Forschungsreise nach Nord-Sumatra (als Buch 1947 unter dem Titel ‚In den Wäldern Nordsumatras’ erschienen) zwischen Juni 1938 und Juli 1939: „Ich habe nicht die Absicht, in diesem Bericht irgendwelche Fragen auch nur annähernd erschöpfend zu behandeln, es sollen Beobachtungen mitgeteilt und Anregungen übermittelt werden. Dabei schien mir eine in manche Einzelheiten gehende Reisebeschreibung notwendig zu sein. Jeder Botaniker, der noch nicht in den Tropen war, weiß, wie schwer es ist, sich ein wahrheitsgetreues Bild zu machen. Diese Schwierigkeit findet ihren Grund darin, dass es nur wenige Botaniker gegeben hat, die längere Zeit wirklich in unmittelbarer Berührung mit der tropischen Natur gelebt haben. (...)

Absichtlich bin ich auch in Gebiete gereist, die von den bewohnten Plätzen weit entfernt liegen und in die auch Eingeborene entweder gar nicht oder nur selten vordringen. Als Reisezeit habe ich nicht nur, wie es oft geschehen ist, die regenärmsten Monate ausgesucht, sondern ich bin auch in den regenreichen Jahreszeiten wochenlang im Urwald und Gebirge geblieben. Als Reiseproviant wurden gerade bei diesen Expeditionen in unberührte Gebiete, die im Mittelpunkt meiner Schilderung stehen werden, keine Konserven und sonstige „europäische“ Lebensmittel mitgenommen, sondern überall lebte ich von der Nahrung, die die Eingeborenen aus ihren Feldern oder aus dem Wald holen; so lernte ich manches, was mir sonst sicher entgangen wäre. (...)

Die Ausrüstung bestand bei diesen Expeditionen, abgesehen vom Reis und Tee, nur aus Schlafsack, Zeltsack, Kochtopf, Photoapparat und einigen wissenschaftlichen Instrumenten. (…) Wenn ich auf den folgenden Seiten auch Reiseeindrücke wiedergebe, die kaum etwas mit der Botanik zu tun haben, so glaube ich damit doch das Interesse an der Durchführung solcher Reisen bei den jungen Botanikern steigern zu können, und vielleicht kann eine solche Schilderung bei dem einen oder anderen auch das Interesse an der Botanik selber fördern.“

Dieser Geist prägte auch Bünnings Lappland-Exkursionen. Sie hat keinen wesentlichen Niederschlag in seinen Publikationen gefunden, denn sie war, wie er immer wieder betonte, eine reine Lehrveranstaltung; eine Lehrveranstaltung aber, welche die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bis heute tief beeindruckte.

Klaus Drumm: ein Teilnehmer wird Leiter

1972 übernahm Dr. Klaus Drumm die Leitung, bis er nach 1984 aus gesundheitlichen Gründen ausscheiden musste. Dennoch begleitete er das Vorbereitungsseminar noch bis ins Jahr 2000, bis er im Jahr 2007 starb. Drumm schrieb zu seiner ersten Teilnahme im Jahr 1952: „Es war nicht nur das Jahr der zweiten Exkursion. Es war auch das Jahr von Bünnings Rektorat. Das hat unserem Unternehmen in unseren Augen ein besonderes Glanzlicht aufgesetzt. Mit einer ausgewachsenen Magnifizenz über Stock und Stein zu wandern, eiskalte Flüsse zu durchwaten, sich in eine enge Lappkohta zu quetschen, ist sicher wenigen Studierenden davor und danach widerfahren. So haben wir damals schon etwas erlebt, was heute immer noch nicht voll realisiert ist, nämlich die Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden.“

Drumm blickte bei einer früheren Jubiläumsfeier auf die Reise zurück: „Nun sind wir also schon lange auf der Fahrt durch Dänemark und Südschweden. Unzerstörte und saubere Städte zogen vor unseren Augen vorbei, gut angezogene Menschen stiegen in den Zug ein, Bilder, die wir alle nur noch aus unserer frühen Jugendzeit kannten. In Stockholm angekommen wartete schließlich eine besondere Überraschung auf uns. Am Bahnhof empfing uns eine deutsch-schwedische Familie mit der Tante einer Kommilitonin. Diese reizenden Menschen bereiteten uns in Schwedens Hauptstadt einen Tag, der im Rückblick an Schlaraffen- und Wunderland erinnert. Zuerst konnten wir in Sundbergs Konditori unseren Hunger stillen. Dieses Lokal wurde übrigens dann für die folgenden Jahre, Jahrzehnte unsere Anlaufstelle für die Rückfahrt. Dann bummelten wir unter der Führung von Familie Svedberg durch Stockholm, besuchten Skansen, das berühmte Freilichtmuseum, wo wir natürlich auch das dort aufgebaute Samendorf ansahen. Die letzte Überraschung erwartete uns endlich bei der Abfahrt des ‚Nordpilen‘ [Nordpfeil, der Zug nach Norden]. Wir waren gerade dabei, unser Gepäck in den Liegewagenabteilen zu verstauen, als ein Gepäckkarren anfuhr. Er war beladen mit großen Kartons voll schwedischer Köstlichkeiten, die wir uns auf der fast 20-stündigen Fahrt schmecken ließen, eine Spende unserer gastfreundlichen Stockholmer Familie.“

Und Drumm schließt: „Die Exkursion hat uns den Blick geöffnet für Zusammenhänge in der belebten Welt, sie hat uns lesen gelehrt in dem Buch, das die Natur geschrieben hat. Die Lappland-Exkursion ist schließlich auch für viele eine Zeit geworden, in der Beziehungen wuchsen und Freundschaften geknüpft wurden, die bis heute überdauern.“

Jahrzehntelange Tradition

Die Exkursion verblieb nach der Ära Bünning am Lehrstuhl für Pflanzenphysiologie mit den Professoren Achim Hager und Wolf Frommer. Heute wird sie von Prof. Klaus Harter vom Zentrum für Molekularbiologie der Pflanzen (ZMBP), einer Einrichtung der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät, betreut. Über die Jahre nahmen bis heute ca. 850 Studierende an der Exkursion teil.

Mehrere ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind leider inzwischen verstorben. Andere Ehemalige mussten ihr Kommen zum Jubiläumsfest absagen, manche leben im Ausland oder waren kurzfristig erkrankt und konnten nicht anreisen. Andere konnten trotz intensiver Suche noch nicht wiedergefunden werden. Die Jubiläumsfeier war aber mit rund 200 Ehemaligen – die teilweise auch aus dem Ausland anreisten! – gut besucht, was die Magie, den „Spirit“, die Identifikation mit dieser Exkursion sicherlich widerspiegelt.

Veränderungen und Konstanten

Es gab Veränderungen. Die Anreise ist bequemer geworden. Das Hüttennnetz ist gut ausgebaut und dank Saunen ist das Waschen mit warmem Wasser möglich. Zelte müssen nicht mehr mitgeschleppt werden, auch wenn sie heute erheblich leichter wären. Die gefährlichsten Flussdurchquerungen wurden durch Brücken entschärft. Das mag man bedauern, denn ein bisschen „Adventure“ kann nichts schaden. Aber für die ExkursionsleiterInnen ist es doch eine Beruhigung. Ausrüstung und Verpflegung wurden leichter, abwechslungsreicher. Wieder Dr.  Drumm: „Ob all die Pülverchen, Sößchen, Würfelchen und Konzentrate an die Bekömmlichkeit des früheren Grundnahrungsmittels, die Haferflocken, heran reichen, das ist eine andere Frage. Aber findige BiologInnen haben es auch immer verstanden, den Speisezettel mit bodenständigen Produkten anzureichern. Pilze und die Beerenauswahl bieten hier ungeahnte Möglichkeiten.“

Anfang der 1970er-Jahre wurde eine Standardroute ausgeknobelt, die alle Besonderheiten der arktischen Lebensräume zeigt. Vieles Nützliche ist auch hinzugekommen. Die Literaturquellen fließen reichlicher, das Internet, der Tübinger Botanische Garten bietet die Möglichkeit, schon bei der Vorbereitung manche charakteristische Pflanze vorzustellen, die man dann im hohen Norden in ihrem ureigenen Lebensraum wieder findet.

Vieles ist sehr ähnlich geblieben. So gibt es bis heute die Standardroute, die „8“, auch wenn inzwischen zuweilen davon abgewichen wird, um dem Massentourismus zu entgehen. Es gibt Tomatenmark, Rei in der Tube (seit 1949), Ritter Sport Schokolade (seit 1912), Gehwol Fußkrem (seit 1882) und – es gab die Erbswurst (seit 1867, inzwischen pleite)! Manches kam dazu: die Pflichtüberraschung (alle bringen etwas für die Gruppe mit, sei es etwa etwas zu essen, zu trinken, ein Spiel, ein Buch zum Vorlesen oder ähnliches) und der „Inoffizielle Wettbewerb des unnützesten Gegenstands“, der seit Jahren und immer noch unangefochten von einer Sternkarte angeführt wird, die eine Exkursion Ende Juli begleitete. Bünning hatte dem Hörensagen zufolge seinerzeit immerhin noch den Stiel seiner Zahnbürste abgesägt, um Gewicht zu sparen. Andererseits gab es sogar mal Melone, Ananas und Sekt im Gepäck…

Aber auch in Lappland verändert sich die Zeit. Hörte man in den 1980er-Jahren vielleicht einmal einen Hubschrauber, weil sich irgendwo jemand verletzt hatte und ausgeflogen werden musste, scheint dieses Verkehrsmittel heute von Touristen zuweilen wie ein Bus benutzt zu werden. Besonders entlang des Kungsleden fällt zunehmend hinterlassener Müll auf, auch wenn in den Hütten auf Müllsammlung und Mülltrennung wert gelegt wird. Es gibt Fahrwege für Geländefahrzeuge, an den Hütten sind Winterparkplätze für Snow-Scooter ausgewiesen. Jeweils im August scheucht eine Firma für Outdoor-Artikel 2000 Leute innerhalb weniger Tage im Wettlauf über die 101 km von Nikkaluokta nach Abisko.

Durch alle Widrigkeiten gemeinsam in die Zukunft

2020 fiel die Exkursion aus, die geplante Jubiläumsfeier wurde verschoben auf 2023. Der Corona-Jahrgang 2021 fand auf Nase und Rachen geprüft mit Anreise per Auto eine Berghütte, von der aus Tagestouren erfolgten. In diesem Jahr 2023 konnte gerade noch dem Noro-Virus entgangen werden.

Die Institution „Lappland-Exkursion“ kommt mir inzwischen wie ein aus der Zeit gefallenes Fossil vor. In einer Zeit, in der es vor allem darum zu gehen scheint, dass immer schneller gelernt (G8), studiert (Bachelor) und gearbeitet werden soll, wirken die Reisen nach und die Aufenthalte in Lappland wie eine Entschleunigungskur. Man reist nach wie vor per Eisenbahn 3000 Kilometer nach Norden und nimmt sich immerhin 14 Tage Zeit für die Wanderung selbst.

Diese Exkursion ist seit Jahren ein Gemeinschaftswerk. Ohne die Generationen von ExkursionsleiterInnen, die die Idee weitertrugen und weitertragen gäbe es sie wohl nicht mehr. Im Namen der Studierenden sei herzlich für die jahrzehntelange Unterstützung durch den Lehrstuhl, die Fakultät und die Universität gedankt. Es bleibt zu hoffen, dass noch etliche Jahre weitere Studierende in den Genuss der botanischen Lappland-Exkursion kommen können.

Michael Koltzenburg

Weitere Informationen

Die unendliche Weite des hohen Nordens - Newsletter-Beitrag zu 70 Jahren Lapplandexkursion

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