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07.07.2023
Musikalische Botschafter für Tübingen und die Universität: 50 Jahre Camerata Vocalis
Ein Interview mit Universitätsmusikdirektor Philipp Amelung
Herr Amelung, erzählen Sie ein bisschen von der Geschichte der Camerata Vocalis…
Die Camerata Vocalis wurde vor 50 Jahren vom damaligen Universitätsmusikdirektor (UMD) Alexander Sumski als Universitätschor gegründet. Das erste Konzert war 1973 eine Aufführung der Carmina Burana. Der Chor hatte dabei in etwa die Größe unseres heutigen Akademischen Chors, hieß aber Camerata Vocalis. Sumski legte im Laufe seiner Amtszeit immer mehr Wert auf die Qualität, deswegen wurde die Camerata in der Folge ‚ausgedünnt‘: Der Chor wurde kleiner und damit auch seinem Namen gerechter, bis er schließlich wirklich ein Kammerchor geworden ist. In der Folge hat Alexander Sumski mit der Camerata viele Schallplatten aufgenommen. Die außergewöhnliche technische Flexibilität, die reiche Palette an Klangfarben und die überzeugende stimmliche Leistung machten sie schon damals zu einem wichtigen musikalischen Botschafter der Tübinger Universität. Trotzdem war die Camerata Vocalis während seiner Amtszeit fast durchgängig größer als sie das heute ist, weil es eben zu dieser Zeit noch keinen akademischen Chor gab.
Den akademischen Chor, also den großen Universitätschor, hat dann erst mein Vorgänger Tobias Hiller 1999 gegründet. Er wollte als Universitätsmusikdirektor die Möglichkeit haben, auch mal größere Chor-Projekte und Konzerte zu machen. Hiller hat immer abwechselnd ein Semester lang Projekte mit der Camerata und ein Semester mit dem akademischen Chor gemacht.
Ich biete seit meinem Amtsantritt im Sommersemester 2011 dagegen jedes Semester beide Chöre an. Denn auch im großen Chor entsteht eine Chorgemeinschaft – trotz aller Schwankungen bei einer Größe von 60 und 90 Sängerinnen und Sängern –, die durch ein Semester Pause gestört würde.
Wie war Ihr Start als Nachfolger von Tobias Hiller 2011?
Ich habe sowohl die Camerata Vocalis als auch das gesamte Collegium Musicum in einem extrem guten Zustand übernommen. Alle Menschen sind mir sehr freundlich und offen gegenübergetreten. Nach dem überraschenden Tod von Tobias Hiller gab es ein Übergangssemester, in dem Jan Schumacher die Camerata vocalis und Patrick Strub das Akademische Orchester dirigiert hat.
Nach meinem Amtsantritt am 1. April 2011 habe ich bereits relativ früh im Semester mit dem Akademischen Chor das Brahms-Requiem aufgeführt und mit der Camerata Vocalis eine Motette in der Stiftskirche. Beides wurde noch von Tobias Hiller geplant.
Wenn man ein neues Ensemble übernimmt, ist ja gefühlt immer alles frisch - alle gehen mit großem Elan an die Arbeit. Danach folgt in der Regel die Konsolidierungsphase, in der man sich aneinander gewöhnen muss und in der die Sängerinnen und Sänger merken, dass auch der neue Chorleiter so seine Eigenheiten hat… Es gab also nach ein paar Semestern meiner Amtszeit einen kleinen Umbruch bei der Camerata, was nicht unüblich ist.
Unter Tobias Hiller gab es beispielsweile relativ viele Sängerinnen und Sänger in der Camerata, die nicht mehr studiert haben. Bei mir kamen gleich am Anfang relativ viele Studierende neu hin, einige wenige sind sogar heute noch nach 12 Jahren dabei! Offiziell ist es keine Bedingung, dass man eingeschrieben sein muss, um bei der Camerata mitzusingen oder beim Orchester mitzuspielen. Tatsächlich sind aber mittlerweile über 90 Prozent (!!!) unserer Mitglieder Studierende. Das zeichnet unsere Chöre und unser Orchester beim Collegium Musicum auch ein wenig aus - im Vergleich zu Ensembles an anderen Universitäten, wo die Quote häufig nur bei 50 Prozent liegt. Dadurch haben wir mehr Wechsel, gleichzeitig erhält das in der Camerata eine gewisse jugendliche Frische.
Tatsächlich erhalten die Studierenden auch 5 ECTS-Punkte, wenn sie zwei Semester regelmäßig bei uns teilnehmen. Aber das ist für niemanden das ausschlaggebende, um in der Camerata mitzusingen oder im Orchester mitzuspielen. Was mich besonders freut: viele Studierende kommen selbst dann regelmäßig zu den Proben, wenn sie merken, dass sie am Termin des Konzertes gar nicht teilnehmen können - nur weil es ihnen so viel Spaß macht, sich wöchentlich zu treffen und Musik zu machen.
Die Camerata als musikalische Botschafter der Universität…
Als Botschafter der Universität in andere Länder zu reisen halte ich für sehr wichtig!
Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir die Konzertreise 2012 nach Israel, mit einem Konzert in der Kirche auf dem Ölberg als Höhepunkt. Am Tag darauf haben wir in einem Pflegeheim in den Palästinensergebieten gesungen. Die äußeren Bedingungen - vor allem die Akustik - waren sehr schlecht aber für die Menschen war der Auftritt eines ganzen Chores in ihrem Pflegeheim etwas wirklich Außerordentliches. Einige der Bewohner konnten etwas Deutsch, und die Leiterin, eine österreichische Nonne, hat nach dem Konzert über den israelisch-palästinensischen Konflikt gesprochen. Das war für den gesamten Chor sehr eindrücklich.
Mein persönliches Konzertreisen-Highlight bei der Arbeit mit der Camerata war das Projekt der Wallander-Oper im Sommer 2016 im schwedischen Ystad, in wunderschöner Umgebung und einem wundervollen alten Theater. Neben den sieben Aufführungen erinnere ich mich an die außergewöhnliche Gemeinschaft innerhalb des Chores, die sich im Laufe der zehn Tage gebildet hat.
Außerdem erinnere ich mich gerne an die Konzertreise nach Leipzig und Dresden mit den Auftritten in der Thomas- und in der Kreuzkirche, v.a., weil ich dort sechs Jahre als Leiter der Schola Cantorum tätig war.
Zuletzt haben wir eher kleinere Konzertreisen in die Region gemacht. Nach Corona haben wir A-cappella angefangen, mit einem Gedenkkonzert zum 12. Todestag von Tobias Hiller. Wir haben nur Werke von ihm aufgeführt. Ein tolles Konzert mit einem sehr engagierten Ensemble – auch ein persönliches Highlight für mich.
Ist es insgesamt schwieriger geworden, Sängerinnen und Sänger zu finden bzw. ‚bei der Stange zu halten‘?
Bei den Studierenden gibt es einen Trend, dass manche Student*innen mehrgleisig fahren – sie sagen nicht, das ist mein Chor oder das ist mein Orchester, sondern schauen, wo in welchem Semester das Programm für sie am interessantesten ist. Oder auch wo die musikalische Qualität am größten ist. Bei der Camerata Vocalis ist das aber anders, hier gibt es dagegen keine so spürbare Fluktuation.
Auch Corona hat bei uns zu keinem Einbruch geführt, sobald wir wieder proben durften, sind die Sängerinnen und Sänger wieder dabei gewesen. Wir haben in dieser Zeit auch regelmäßig Vorsing- und Vorspieltermine per Zoom gehabt. Außerdem haben wir anfangs während der Pandemie jede Woche eine Rundmail an alle verschickt, mit Informationen über die Werke, die wir in normalen Zeiten aufgeführt hätten. So haben wir unsere Leute bei der Stange gehalten.
Was sind Ihre Pläne für die Camerata in der Zukunft?
Anfang Juli haben wir zunächst unser Jubiläumswoche anlässlich 50 Jahre Camerata vocalis. Mit einem Gedenkkonzert für den vor einem Jahr verstorbenen UMD Alexander Sumski starten wir am 9. Juli, dabei singt die Camerata vocalis Werke von Nikolaus Betscher sowie Chormusik aus Gabun, Malawi und Südafrika. Es folgt eine Woche später das eigentliche Festkonzert mit Werken ehemaliger Universitätsmusikdirektoren (Friedrich Silcher, Otto Scherzer, Emil Kaufmann, Fritz Volbach, Karl Haase und Tobias Hiller),
Sehr gerne würde ich die Kompositionen meiner Vorgänger mit der Camerata auf CD einspielen, allerdings ist das ein Langzeitprojekt. Parallel möchte ich mich mit den Vokalwerken von Friedrich Silcher vermehrt widmen und ein Konzept entwickeln, wie diese häufiger zu hören sein können.
Im Sommer 2022 habe ich mit der Camerata Vocalis eine Konzertreise nach Griechenland zu einem Chorfestival unternommen, das werden wir diesen Sommer wiederholen. Außerdem existieren Planungen für Konzertreisen innerhalb Deutschlands und nach England, hier wird möglicherweise unsere Rektorin Prof. Karla Pollmann als Türöffnerin fungieren.
Künftig möchte ich mich mit der Camerata Vocalis weitgehend auf die A cappella-Literatur konzentrieren. Die Teilnahme an Wettbewerben ist dagegen nicht so meine Welt. Ich persönlich möchte ungern „gegen“ andere Chöre, sondern lieber mit ihnen gemeinsam singen!
Das Interview führte Maximilian von Platen