attempto online
08.12.2025
Ohne rasches Handeln ist Klimaneutralität bis 2045 kaum erreichbar
Interdisziplinäres Forschungsprojekt mit Tübinger Beteiligung gibt Empfehlungen zur CO2-Entnahme aus der Atmosphäre
Bis 2045 soll Deutschland laut Bundes-Klimaschutzgesetz treibhausgasneutral werden. Dafür reicht es nicht, Emissionen massiv zu senken: Es muss auch ein bedeutender Anteil an CO₂ aus der Atmosphäre entfernt werden. Über 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des interdisziplinären Großprojekts CDRterra haben in zehn Forschungsverbünden verschiedene CO₂-Entnahmemethoden (Carbon Dioxide Removal, CDR) untersucht – von biologischen bis zu (geo-)chemischen Verfahren. Ein Verbund steht unter der Leitung von Professorin Dr. Kira Rehfeld (Fachbereich Geowissenschaften) und Dr. Matthias May (Fachbereich Chemie) von der Universität Tübingen. Das Team um die beiden Forschenden entwickelt ein Verfahren, Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entnehmen und den enthaltenen Kohlenstoff mit künstlicher Photosynthese in langfristig lagerfähige Produkte umzuwandeln. Der Verbund, an dem auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums Berlin, des Karlsruher Instituts für Technologie, der TU Darmstadt sowie der Universitäten Stuttgart und Ulm beteiligt sind, firmiert unter dem Titel NETPEC, kurz für Negative Emission Technologies based on PhotoElectroChemical Methods. Das vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt geförderte Programm CDRterra wird von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München koordiniert.
CO₂-Entnahme braucht Tempo
Die Forschenden entwerfen ein Szenario mit ambitionierten Transformationsmaßnahmen, in dem ab 2045 bis zu 80 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente pro Jahr durch verschiedene CDR-Verfahren gebunden werden – wenn bestehende und neue Ansätze kombiniert werden.
Bislang entzieht Deutschland der Atmosphäre nur einen Bruchteil davon. Selbst bei höchst ambitionierter Minderung werden ab 2045 immer noch 60 bis 130 Millionen Tonnen Restemissionen im Jahr bleiben, so Schätzungen. „Ohne ehrgeizige Emissionsminderungen und CO₂-Entnahme verfehlen wir unsere Klimaziele. Für den Hochlauf von CDR braucht es klare Regeln, den Ausbau neuer Methoden, den Schutz natürlicher Senken – und den Dialog mit der Gesellschaft“, sagt Julia Pongratz, CDRterra-Sprecherin und Professorin an der LMU.
Etablierte Verfahren brauchen neue Gesetze
Bewährte Verfahren wie Aufforstung und Agroforstwirtschaft oder Methoden des „Carbon Farmings” wie der Zwischenfruchtanbau lassen sich kurzfristig umsetzen und beschleunigen die CO₂-Speicherung. Modellierungen zeigen, dass großflächige Aufforstungen den Klimawandel messbar bremsen können. Doch für eine Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad muss die heutige weltweite CO₂-Entnahme bis 2050 mindestens verdoppelt werden. In Deutschland verschärft sich dadurch der Wettbewerb um Flächen erheblich. Hinzu kommen rechtliche und strukturelle Hürden: So ist die Umwandlung von Grünland in Wald vielerorts untersagt, und Landwirtinnen und Landwirten fehlt oft das Know-how oder die langfristige Planungssicherheit.
Innovative CDR-Verfahren mit Potenzial
Um das Portfolio zu erweitern, haben die Forschenden auch neue Verfahren entwickelt. Potenzial sehen sie etwa in der künstlichen Photosynthese, die CO₂ mithilfe von Solarenergie in Kohlenstoffflocken umwandelt – effizienter als natürliche Prozesse. Vielversprechend sind auch neuartige Baustoffe auf Basis von Gabbro, Pflanzenkohle und biobasierten Kohlenstofffasern, die CO₂ speichern. Diese Optionen brauchen jedoch noch Entwicklungszeit.
Kira Rehfeld vom Tübinger NETPEC-Leitungsteam erläutert: „In unserem Projekt wollen wir die Herausforderung meistern, eine effiziente künstliche Photosynthese von energiearmen, kohlenstoffreichen Molekülen zu schaffen, um diese als feste oder flüssige Stoffe nahe der Erdoberfläche einzulagern.“ Dieses Verfahren könne insbesondere für Regionen Vorteile bieten, in denen CO2 nicht gasförmig verpresst oder abtransportiert werden kann.
„Mit künstlicher Photosynthese kann die Gesellschaft langfristig Klima- und Umweltfolgen durch eine flächennutzungseffiziente und energieautarke CO2-Entnahme reduzieren. Es bedarf aber weiterer Forschung, um aus den ersten Ergebnissen Prototypen zu entwickeln und großflächige Feldtests durchführen zu können“, betont Matthias May.
Gesellschaft und Infrastruktur als Schlüssel
CO₂-Entnahme ist auch eine technische Herausforderung, bei der Infrastruktur für CO2 Transport und Speicherung gut geplant werden muss. „Darüber hinaus ist sie eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Landwirtinnen und Landwirte, Industrie, Kommunen und Bürgerinnen und Bürger müssen von Anfang an beteiligt werden – nur so entstehen Akzeptanz und Vertrauen, die für die Umsetzung entscheidend sind“, betont LMU-Geograph Dr. Felix Havermann, wissenschaftlicher Koordinator bei CDRterra.
Das Fazit von CDRterra ist eindeutig: Um Treibhausgasneutralität zu erreichen, müssen Landnutzung und Landwirtschaft grundlegend reformiert, geeignete Infrastrukturen aufgebaut und die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden – im engen Dialog mit der Gesellschaft. So können auch vielfältige ökologische und gesellschaftliche Vorteile genutzt werden. Der Verbund appelliert: „Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren – die nächsten Jahre sind entscheidend.“
Nach einer Pressemitteilung der LMU München
Weitere Informationen:
Webseite von CDRterra
Download der Forschungsergebnisse und Handlungsempfehlungen
Projekt-Webseite des NETPEC-Verbunds
Webseite der Arbeitsgruppe Klimatologie von Kira Rehfeld
Webseite der Arbeitsgruppe Spektroelektrochemie von Matthias May
Artikel über die Tübinger Forschung zur künstlichen Photosynthese (Forschungsmagazin attempto! 58, 2023)