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16.10.2020
Vogelbeobachter waren auch im Lockdown aktiv
Wie die Pandemie unser Freizeitverhalten verändert: Forschungsteam befragte Hobby-Ornithologen
Die Pandemie verändert auch unser Freizeitverhalten und das Sozialleben vieler Menschen. In welchem Ausmaß, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Tübingen erstmals systematisch am Beispiel der Vogelkunde untersucht. Mit einem internationalen Team befragten sie insgesamt 4.500 ehrenamtliche Vogelbeobachter weltweit, was sich für sie während des Lockdowns von Ende März bis Anfang Mai geändert hatte. Die beste Nachricht für das Forschungsteam: Die Datenlage in sogenannten „Citizen Science“-Projekten, also Forschungsprojekten, bei denen sich Bürgerinnen und Bürger beteiligen können, hat sich auch unter den Einschränkungen eines Lockdowns nicht unbedingt verschlechtert. Projekte, die sich aus Beobachtungen von Hobby-Ornithologen speisen, sind in dieser Hinsicht besonders wichtig. Die Studie wurde online veröffentlicht: https://www.mdpi.com/1660-4601/17/19/7310/htm
Mehr als 600.000 Menschen weltweit beobachten und zählen in ihrer Freizeit regelmäßig Vögel. Ihre Ergebnisse stellen sie auch „Citizen Science Projekten“ zur Verfügung, in denen interessierte Bürgerinnen und Bürger Daten für die Wissenschaft sammeln. „Das sind gewaltige Datenmengen, die einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für unsere Arbeit leisten“, sagt Christoph Randler, Professor für Didaktik der Biologie an der Universität Tübingen. Sein Team hatte für die systematische Erhebung die Gemeinschaft der „Birder“ als Beispiel für eine naturorientierte Freizeitbeschäftigung ausgewählt. „Studien zu COVID-19 beschäftigen sich bislang wenig mit den Folgen für Sozialleben oder Freizeitverhalten“, sagt Randler. In offenen Fragen und ohne vorgegebene Antworten habe man die Betroffenen von ihrer Situation berichten lassen.
In den Rückmeldungen bestätigten 85 Prozent der Befragten, dass die Corona-Pandemie und der Lockdown ihr Verhalten verändert habe. 60 Prozent gaben an, die Situation habe den Radius für Beobachtungen auf die nähere Umgebung eingeschränkt, die oft üblichen Reisen zur Vogelbeobachtung in entfernte Regionen unterblieben. Ihrem Hobby ging die große Mehrheit dennoch nach: Nur acht Prozent der Befragten stand weniger Zeit für Vogelbeobachtung zur Verfügung. 12 Prozent sagten, sogar deutlich mehr Zeit für ihr Hobby zu haben. Manche veränderten lediglich ihren Tagesrhythmus: Sie bevorzugten frühere oder spätere Zeiten als gewohnt, um anderen Menschen aus dem Weg zu gehen oder wählten gar Regentage. Am häufigsten änderte der Lockdown die sozialen Interaktionen, weil ein gemeinsames Beobachten nicht mehr möglich war. Dies beklagten vor allem Frauen und ältere Menschen.
Überraschend für das Forschungsteam zeigte sich ein direkter Zusammenhang mit dem „Human Development Index (HDI), einem Indikator, mit dem die Vereinten Nationen den Entwicklungsstand einzelner Länder bewerten. So waren es gerade Menschen aus höher entwickelten Ländern, die von mehr Zeit für die Vogelbeobachtung berichteten. Zwar beklagten sie die Reisebeschränkungen des Lockdowns, waren aber weniger zeitlichen und räumlichen Einschränkungen unterworfen als Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern. In diesen habe es sogar Arbeitsplätze gekostet, dass „Naturtouristen“ ausblieben, Menschen, die eigens für die Beobachtung von Vögeln anreisen.
Bleibt die gute Nachricht zur Forschung durch Bürgerinnen und Bürger: Die Datenlage hat sich zwar verändert, unter anderem weil viel bereiste Regionen und häufig genutzte Tageszeiten wegfallen. Dafür gibt es nun plötzlich vermehrt Daten aus bislang unentdeckten Regionen und der unmittelbaren Nachbarschaft ‒ für die Wissenschaft sind diese unter Umständen genauso wertvoll.
„Insgesamt hat mich an der Studie fasziniert, dass eine starke Verbundenheit innerhalb der community deutlich wurde“, sagt Christoph Randler. Selbst Menschen, die durch den Lockdown ans Haus gebunden seien, verfolgten ihr Hobby weiter und beobachteten zumindest am Fenster Vögel. „Der insgesamt positive Tenor der Antworten hat mich persönlich durch den Lockdown getragen.“
Kontakt:
Prof. Dr. Christoph Randler
Universität Tübingen
Didaktik der Biologie
+49 7071 29-74619
Mobil 0160-92415216
christoph.randlerspam prevention@uni-tuebingen.de