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05.04.2022
Wie „autonom“ ist die Tarifautonomie?
16. Tübinger Arbeitsrechtstag fand Ende März wieder in Präsenz statt
Der 16. Tübinger Arbeitsrechtstag fand am 25. März 2022 erstmals seit der Covid-19-Pandemie wieder als Präsenzkongress statt. Die Veranstaltung widmete sich einer wesentlichen Säule des kollektiven Arbeitsrechts: dem eklatanten Rückgang der Tarifbindung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und der daraus folgenden staatlichen Stützung der Tarifautonomie sowie deren juristische Folgen.
Rund 100 Teilnehmer aus Wissenschaft und Praxis folgten der Einladung von Tagungsleiter Prof. Hermann Reichold (Universität Tübingen) und verfolgten die Veranstaltung im Audimax in der Neuen Aula. Einleitend wies Reichold darauf hin, dass seit dem sog. „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ anno 2014 es bereits zu einer Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen gekommen sei – das Gesetz wurde damals schon von Kritikern als „Tarifautonomieschwächungsgesetz“ bezeichnet. Aufgrund des staatlich verordneten Mindestlohns seit 2015 sowie der verbreiteten „Ohne-Tarif“-(OT-)Mitgliedschaft auf Arbeitgeberseite ergäben sich weitere Schwächungen der Tarifbindung, welche die Voraussetzungen einer staatsunabhängigen Festsetzung von Arbeitsbedingungen durch die sachnäheren Gewerkschaften bzw. Arbeitgeberverbände in Frage stellten.
Um die in seinen Augen bedrohliche Situation der Tarifautonomie aufzuzeigen, unternahm Prof. Clemens Höpfner (WWU Münster) zunächst eine Bestandsaufnahme der Tarifbindung und der Organisationsrate in Deutschland, um daraus einen anhaltenden Negativtrend sowohl auf Arbeitnehmer- als auch Arbeitgeberseite zu folgern. Als Ursachen für diesen Negativtrend nannte er auf Arbeitgeberseite vor allem hohe Kosten, mangelnde Flexibilität und hohe Komplexität der Tarifverträge sowie fehlende Ausstiegsmöglichkeiten (z.B. wegen gesetzlicher Nachbindung und Nachwirkung der Tarifverträge). Für die Arbeitgeber erwiesen sich die OT-Mitgliedschaft sowie arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln und Anerkennungstarifverträge attraktiver als die volle Verbandsmitgliedschaft. Auf Arbeitnehmerseite konstatierte Höpfner, dass hier vor allem die Kosten der Gewerkschaftsmitgliedschaft prohibitiv wirkten – angesichts arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklauseln bzw. der Allgemeinverbindlichkeit stelle man sich die Frage: „Warum etwas über den Mitgliedsbeitrag einkaufen, das man auch geschenkt bekommt?“.
Staatliche Stärkungen der Tarifgeltung durch erga-omnes-Wirkung auf Arbeitgeberseite, Tariftreueregelungen oder eine Einschränkung der OT-Mitgliedschaft seien also der falsche Weg. Dadurch würden nur die Symptome, nicht aber die Ursachen der rückläufigen Tarifbindung behandelt. Nicht die Tarifgeltung müsse gestärkt werden, sondern auf vorgelagerter Stufe die Tarifbindung kraft Mitgliedschaft. Wenn der Gesetzgeber die Tarifbindung stärken wolle, könne dies nur „von unten“ geschehen, indem er die Attraktivität der Verbandsmitgliedschaft erhöhe und dadurch die Tarifautonomie stärke. Der Staat solle sich auf solche Maßnahmen beschränken, die bestehende Negativanreize abmilderten.
Im Anschluss referierte Prof. Martin Franzen (LMU München) zum Thema „Stärkung der Tarifautonomie durch Anreize zum Verbandsbeitritt“. In Übereinstimmung mit Höpfner betonte er ebenfalls, dass eine Stärkung der Tarifgeltung nicht notwendigerweise eine Stärkung der Tarifautonomie bewirke, sondern vielmehr eine breite Mitgliederbasis in den Koalitionen dafür entscheidend sei. Eine Abschaffung der OT-Mitgliedschaft und die Erweiterung der Allgemeinverbindlichkeit seien hingegen keine geeigneten Mittel zur Stärkung der Tarifbindung. Zentral für die Stärkung der tarifvertraglichen Gestaltung der Arbeitsbedingungen im System der Tarifautonomie sei vielmehr eine Tarifpolitik, die so ausgerichtet werden müsse, dass Tarifverträge auch für Arbeitgeber attraktiv blieben. Als wichtige und bislang weitgehend unbeachtete Stellschraube sei insoweit das Arbeitskampfrecht als „Tarifverhandlungsrecht“ zu bewerten. Dieses sei dank der Rechtsprechung relativ kampffreundlich und damit gewerkschaftsfreundlich ausgestaltet mit der Folge, dass Tarifverträge entstünden, die vielen Arbeitgebern nicht gefielen und ihre Tarifbindung in Frage stellten.
Auf der Arbeitnehmerseite müsse die Rechtsordnung hingegen Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt verbessern. Insoweit schlug Franzen die Aufnahme eines Steuerfreiheitstatbestandes in § 3 EStG vor, der einen Teil des aufgrund eines Tarifvertrages geschuldeten Arbeitsentgeltes steuerfrei stellen soll. Zwar sei eine solche Steuerprivilegierung verfassungsrechtlich nicht unproblematisch, sie könne aber aufgrund der überragenden Bedeutung der Tarifautonomie für die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung gerechtfertigt werden. Voraussetzung für die Steuerprivilegierung, die das Drei- bis Vierfache des durchschnittlichen Jahresbeitrages für die Gewerkschaftsmitgliedschaft eines Arbeitnehmers mit durchschnittlichem Einkommen betragen solle, sei jedoch, dass es sich um echtes tarifgebundenes Entgelt handele. Sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber müssten also mitgliedschaftlich tarifgebunden sein und das Entgelt aufgrund eines zwischen beiden Verbänden geschlossenen Tarifvertrages gezahlt werden.
Nach der Mittagspause referierte Roman Romanowski, leitender Justiziar der IG Metall (Frankfurt), zum Thema „Verschlechterungsverbot bei Tarifwechsel nach Betriebsübergang?“. Er legte die Interessen der Betroffenen im Falle des § 613a BGB dar und machte deutlich, wie anwendungsunfreundlich diese Norm sei. Um den Wirkungsmechanismus besser zu beschreiben, wählte er ein eindrückliches Beispiel und beschrieb, dass das Arbeitsverhältnis sozusagen einen Rucksack enthalte, in welchem sich der Tarifvertrag befinde. Der Ablösungsmechanismus erlaube laut BAG konsequenterweise keine Beachtung des Günstigkeitsprinzips, weil das Gericht bei der Transformation nach § 613a Abs. 1 BGB in der kollektiven Regelung keine schuldrechtliche, sondern eine kollektivrechtliche Norm sehe. Im Anschluss stellte Romanowski die Inhalte der „Scattolon“-Entscheidung des EuGH vor, aus welcher sich ein allgemeines Verschlechterungsverbot ableiten lassen könne, was das BAG aber ausdrücklich verneine. Für diese Lösung spreche, dass die Tarifvertragsparteien eine Richtigkeitsgewähr oder zumindest eine Angemessenheitsvermutung für ihre Lösung beanspruchen könnten. Bei einem funktionierenden Tarifvertragssystem bedürfe es keiner staatlichen Eingriffe. Zudem sei eine Missbrauchskontrolle jederzeit möglich.
Als letzter Referent der Tagung widmete sich Prof. Sebastian Kolbe (Universität Bremen) dem Thema „Tarifeinheit auf dem Prüfstand – Lehren aus dem GDL-Streik 2021“. Mit dem Lokführer-Streik der GDL hätte dieses Thema in Verbindung mit dem verfassungsrechtlich umstrittenen § 4a TVG an Fahrt aufgenommen. Tarifkollisionen sollten durch diese Norm nicht aufgelöst, sondern vielmehr präventiv verhindert werden. Obwohl der Aufstieg der Spartengewerkschaften wie GDL, Cockpit, UFO zeige, dass die Mitglieder ihre Interessen nicht immer hinreichend berücksichtigt sehen, gebe es keinen Trend zu einer größeren Anzahl solcher Gewerkschaften. Vielmehr komme es zu einer Kooperation, welche vermutlich durch die Tarifeinheit gefördert werde. Das TEG sei nicht dazu geeignet, Arbeitskämpfe zu vermeiden, so Kolbe, denn welche Partei die Mehrheit habe, könne erst nach dem Arbeitskampf entschieden werden. Durch die Zuwachsmöglichkeiten während des Arbeitskampfes wirke das TEG vielmehr kampfanreizend statt deeskalierend. Der letzte Streik der GDL biete daher Anlass, weniger auf die Vermeidung von Tarifeinheit zu setzen, als vielmehr auf deren Anwendung. Zusammenfassend lasse sich sagen, dass die gesetzliche Tarifeinheit die Optionen einer Zusammenarbeit von Gewerkschaften deutlich in den Fokus gerückt habe. Der GDL-Streik zeige zudem, wie zerbrechlich die bisherigen Lösungen seien. Gewerkschaftskonkurrenz könne nicht durch das TEG befriedet werden. Kolbes zentrale These war daher, dass die Tarifeinheit in eine zweite Phase übergehe. Die erste, eher kooperative Phase werde nun von einer zweiten, eher kompetitiven Phase abgelöst. Kolbe resümierte, dass durch eine neue gelebte Tarifeinheit einheitliche Arbeitsbedingungen in Betrieben ermöglicht würden, wodurch eine Spaltung der Belegschaft verhindert werden könne. Besonders spannend sei es zukünftig zu beobachten, wie sich die gelebte Tarifeinheit insb. im Flug- und Bahnverkehr auf die Tarifverhandlungen konkret auswirke.
Die Vorträge wurden häufig kontrovers diskutiert, ohne indes in Frage zu stellen, dass der derzeitige Trend der Verstaatlichung der Tarifautonomie der falsche Weg sei. Zur Tarifkonkurrenz plädierte Prof. Wolfgang Däubler dafür, das TEG wieder aufzugeben. Die Kooperation ver.di und Beamtenbund bzw. Marburger Bund zeige zudem, dass Tarifpluralität gut funktioniere. Prof. Franzen ergänzte, dass bei Einführung des § 4a TVG die Befürchtung einer Tarifzersplitterung vorherrschte. Tatsächlich habe die Norm jedoch die bereits vorhandenen Gewerkschaften stabilisiert und gleichzeitig verhindert, dass neue entstünden. Kolbe entgegnete, dass noch nicht abschließend geklärt sei, was die Neuentstehung von Gewerkschaften verhindert habe. Reichold schloss die Diskussion mit den Worten „es gibt den § 4a, aber jeder ist bemüht, ihn nicht zu nutzen“.
Doreen Emde / Lars Sander