Uni-Tübingen

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08.09.2025

Forschung für gute Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten

60 Jahre Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung

Professorin Dr. Monika A. Rieger

Vom 9. bis 12. September 2025 feiert das Tübinger Institut für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung (IASV) sein 60-jähriges Bestehen. Professorin Dr. Monika A. Rieger, seit 2008 Direktorin des Instituts, spricht im Interview über aktuelle und künftige Herausforderungen in der Arbeitsmedizin.

Frau Professorin Rieger, die Arbeitswelt befindet sich in einem großen Wandel…

Die Digitalisierung und die damit einhergehende Globalisierung haben erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitswelt insgesamt und auch auf den einzelnen Arbeitsplatz, und das ist völlig unabhängig von der einzelnen Branche.

Ein Auto wird heute beispielweise nicht mehr komplett in einer Fabrik gebaut, sondern die verschiedenen Bauteile werden an verschiedenen Orten und teilweise weltweit produziert und am Ende an einem Ort zusammenmontiert. Aufgrund der Digitalisierung gelingt das ohne große Lagerkapazitäten – Just in time – mit einer erheblichen Kostenreduktionen, trotz der unglaublich langen Lieferwege. Gleichzeitig führt das aber dazu, dass ein enormer Zeitdruck herrscht, weil diese Form der Produktion nur funktioniert, wenn alle Arbeitsprozesse global abgestimmt sind und keine Lieferverzögerungen auftreten, wie zuletzt während der COVID-19-Pandemie.

Die Digitalisierung und die damit verbundene Automatisierung bringen es aber auch mit sich, dass bestimmte Tätigkeiten ganz wegfallen, während andere Tätigkeiten komplexer und anspruchsvoller werden, weil die Beschäftigten die dafür erforderlichen Informationen nur digital über Computer erhalten. Das führt wiederum dazu, dass Menschen, die vorher einfache Tätigkeiten gut machen konnten, zum Teil Probleme auf dem Arbeitsmarkt bekommen.

Parallel erleben wir den demografischen Wandel unserer Gesellschaft: Menschen werden nicht zuletzt dank der verbesserten Lebensumstände und der guten Gesundheitsversorgung älter. Das führt allerdings dazu, dass chronische Erkrankungen zunehmen, der Anteil älterer Menschen steigt und wir deswegen alle länger arbeiten müssen, damit unsere Sozialversicherungssysteme weiterhin funktionieren. Diese längere Lebensarbeitszeit ist für viele Menschen gut möglich und auch gesundheitsförderlich, aber für andere eben nicht so gut. Letzteres gilt insbesondere im Hinblick auf körperliche Belastungen bei der Arbeit, das heißt solche Tätigkeiten, die z.B. zu einer Beanspruchung der Gelenke führen.

Was untersucht die Arbeitsmedizin?

Die Aufgabe der Arbeitsmedizin allgemein und auch unserer Forschung ist, Risiken für beruflich bedingte Erkrankungen früh zu erkennen und Vorschläge zu machen, wie wir gute Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten schaffen können - unter Berücksichtigung der genannten Dimensionen und Gegebenheiten. 

Dazu gehört auch, genau hinzuschauen und nachzufragen, wenn Beschäftigte häufige Fehlzeiten haben bzw. sich oft krankschreiben lassen. Auch die Wiedereingliederung nach einer längeren Erkrankung ist Thema der Arbeitsmedizin, mit Schnittstellen zum Versorgungssystem und der zugehörigen Forschung.

Grundsätzlich sind gute Arbeitsbedingungen im Interesse der Unternehmen, der Beschäftigten und auch der Gesellschaft: für die Unternehmen sind geringe Fehlzeiten relevant, die Beschäftigten bleiben gesund und profitieren von den vielen positiven Effekten von Arbeit, und für die Gesellschaft bedeuten gesunde und arbeitsfähige Beschäftigte, dass diese länger arbeiten und entsprechend länger einen Beitrag zu unserem Sozialversicherungssystem leisten. 

Global gesehen unterscheiden sich die Fragestellungen der Arbeitsmedizin: In noch wenig industrialisierten Gesellschaften mit einer großen Bedeutung des primären Wirtschaftssektors – z.B. Landwirtschaft und Bergbau – stehen die Themen Unfälle und schwere körperliche Arbeit im Vordergrund, zumal dort viele Menschen informell arbeiten, d.h. ohne Einbettung in ein Unternehmen, das für den Arbeitsschutz sorgt. In stärker industrialisierten Ländern kommen berufsbedingte Krebserkrankungen und Muskel-Skelett-Erkrankungen stärker in den Fokus, auch weil die Lebenserwartung in diesen Ländern steigt. Und bei zunehmender Verbesserung des Arbeitsschutzes und Zunahme des Dienstleistungsbereichs in den hochindustrialisierten Ländern werden die psychischen Erkrankungen bedeutsamer mit Blick auf die Arbeitsunfähigkeit. Die Vermeidung von Muskel-Skeletterkrankungen bleibt als Gegenstand der Arbeitsmedizin aber immer erhalten – sei es aufgrund einer möglichen arbeitsbedingten Überforderung z.B. in der Produktion oder Unterforderung z.B. durch langes Sitzen.  Und natürlich wirken sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Krisen ebenfalls am Arbeitsplatz aus. Das haben wir beispielsweise im Rahmen der COVID-19-Pandemie erlebt und sehen es auch im Hinblick auf den Klimawandel.

Tatsächlich spielen für Arbeitgeber in Industrieländern Muskel-Skeletterkrankungen, Risikofaktoren für Herz-Kreislauferkrankungen wie z.B. Diabetes sowie psychische Erkrankungen bei der Prävention am Arbeitsplatz die größte Rolle, da sie die meisten Fehlzeiten verursachen.

Wie ergänzen sich Arbeitsmedizin und Betriebliche Gesundheitsförderung?

Die betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) hat eine andere Perspektive als die Arbeitsmedizin und kommt aus dem Bereich Public Health. Sie schaut weniger nach den konkreten Arbeitsbedingungen, sondern vielmehr danach, dass die – arbeitende – Bevölkerung generell mehr auf eine gesunde Lebensweise und Ernährung achtet und macht dafür konkrete Angebote. Es geht häufig um Gesundheitsthemen, die zunächst nichts unmittelbar mit der Arbeit zu tun haben.

Im öffentlichen Dienst ist angesichts knapper Kassen häufig wenig Spielraum für die Gesundheitsförderung. Gewerbliche Betriebe können aktuell bis zu 600 Euro jährlich pro Beschäftigtem steuerfrei Leistungen erbringen zur Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken und zur Förderung der Gesundheit., und in wirtschaftlich guten Zeiten investieren sie häufig entsprechend in die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der eigenen Belegschaft. In einem wirtschaftlichen Abwärtszyklus, wie wir in momentan erleben, müssen die Unternehmen ihre Produktionskosten senken und mit globalen Unsicherheiten zurechtkommen, da muss dann unter Umständen auch an gesundheitsfördernden Maßnahmen gespart werden.

An der Universität, wo wir als Institut ja auch die betriebsärztliche Betreuung der Beschäftigten und Studierenden übernehmen, stehen wir im regelmäßigen Austausch mit den Personen, die im Rahmen der Betrieblichen Gesundheitsförderung (an der Universität: Betriebliches Gesundheitsmanagement BGM) die verschiedenen Maßnahmen und Angebote koordinieren. Wir beraten dabei sowohl aus einer ärztlichen als auch aus unserer wissenschaftlichen arbeitsmedizinischen Perspektive, welche Angebote und Maßnahmen einen positiven Effekt auf die Gesundheit der Uni-Angestellten und Studierenden haben.

Das Institut befasst sich auch mit den Bereichen Sozialmedizin (seit 1979) und Versorgungsforschung (seit 2011). Welche Themen stehen hier im Mittelpunkt?

In der Sozialmedizin wird das Individuum in Hinblick auf seine persönliche Gesundheit und die dafür relevanten sozialen Faktoren wie Bildung, Geschlecht, Alter oder Herkunft betrachtet, das Ganze im Kontext unseres Sozialversicherungssystems. Untersucht wird die Frage, wie alle diese Faktoren individuelle Krankheitsentwicklungen und -verläufe bestimmen. Dieser Bereich kam mit der Berufung von Professor Friedrich Schmahl 1979 auf die Professur für Sozialmedizin ans Institut. Im Verlauf wurden die beiden Professuren für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin in einer Professur zusammengefasst, und so blieb es auch bei meiner Berufung im Jahr 2009. Ich komme ursprünglich aus der Arbeitsmedizin, forsche aber viel an der Schnittstelle zur Sozialmedizin und zur Versorgungsforschung. 

Die Versorgungsforschung beschäftigt sich damit, wie die Gesundheitsversorgung und die Krankenversorgung unter Alltagsbedingungen bestmöglich gestaltet werden können, im Hinblick auf die Patientinnen und Patienten. Das umfasst nicht nur die in der medizinischen Forschung häufigen Themen wie Schmerzreduktion oder Überlebensraten, sondern ganz vielfältige Dimensionen von Gesundheit wie etwa Lebensqualität oder – ganz wichtig - Teilhabe an der Gesellschaft: Wie muss eine Gesundheitsversorgung aussehen, damit Menschen nach einer Erkrankung wieder arbeiten oder in der Familie wieder Funktionen ausfüllen können? Hier gibt es Schnittstellen zum Bereich Arbeitsmedizin. 

Zur Versorgungsforschung gehört ebenso die Frage, wie Beschäftigte in der Gesundheits- oder Krankenversorgung qualifiziert sein sollten, damit diese Ergebnisse bestmöglich ausfallen und zugleich aber die Leistungen auch finanzierbar sind.

Mit der Ansiedelung der Koordinierungsstelle Versorgungsforschung kam dieser Bereich 2011 hier am Institut hinzu, was sich auch im heutigen Namen widerspiegelt. An der Medizinischen Fakultät gibt es eine starke Kooperation mit der Allgemeinmedizin mit Frau Professorin Stefanie Joos, aber auch mit den Bereichen Pflegewissenschaft, Biometrie oder auch der Frauenklinik. Gerade beim Thema Frauengesundheit hat sich erst in jüngster Zeit die Erkenntnis etabliert, dass hier eine andere Art der Kranken- und Gesundheitsversorgung notwendig ist, zu der es noch sehr wenig Forschung gibt. 

Und auch unser Engagement im Bereich Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an unserer Forschung über das Dialogforum „Gesunde Arbeit. Gesunde Zukunft “ und unsere Bürger*innen-Veranstaltungen entspringt der Versorgungsforschung. 

Bei uns laufen aktuell Studien z.B. zur Prävention beruflich bedingter Krebserkrankungen, zum Einsatz von Exoskeletten am Arbeitsplatz oder zur guten Gestaltung von Steharbeit. Insbesondere während der COVID-19-Pandemie haben wir uns wissenschaftlich auch mit Auswirkungen von Masken am Arbeitsplatz beschäftigt (vgl. Attempto! 62/2025). 

Außerdem begleiteten wir in den zurückliegenden Jahren wissenschaftlich die digitale Umgestaltung der Arbeitsabläufe an einem großen Institut für Pathologie (vgl. Podcast "Auswirkungen der digitalen Transformation auf Beteiligte"). Eine Erkenntnis war, dass diese Änderung der Arbeit sich auch auf das Bewegungsverhalten am Arbeitsplatz auswirkte: zwar fallen dort durch die Digitalisierung viele Gänge ins Labor weg, weil alles nur noch am Computer passiert. Die Beschäftigten merken aber, dass ihnen diese Bewegung fehlt, während sie vorher darüber geklagt haben, dass sie so viel hin und her gehen müssen.

Welche weiteren Aufgaben übernimmt das IASV?

Wir geben Empfehlungen für Politik und Unternehmen zur Arbeitsgestaltung, basierend auf unserer Forschungsarbeit. 

Wir lehren im humanmedizinischen Fach Arbeits- und Sozialmedizin, aber zum Beispiel auch in den Studiengängen Medizintechnik, Population-Based Medicine und Hebammenwissenschaften, im Schnitt sind das 345 Studierende allein in der Humanmedizin pro Jahr. 

Wir qualifizieren Menschen in Gesundheitsberufen an der Schnittstelle von Arbeit und Gesundheit, bilden Betriebsärztinnen und Betriebsärzte aus und bieten für diese Gruppe auch Fort- und Weiterbildungen an. 

Nicht zuletzt übernehmen wir die betriebsärztliche Versorgung für insgesamt 37.000 Beschäftigte, darunter die Beschäftigten der Universität Tübingen sowie alle Studierenden der Universität, inklusive der Medizinischen Fakultät.

Wir sind ein relativ kleines Team mit 38 Mitarbeitenden aus 20 unterschiedlichen Fächern, wie der Medizin, Medizintechnik, Sportwissenschaft, Soziologie oder Pflegewissenschaft. Die vielfältigen Aufgaben des Instituts können wir nur erfüllen, weil die interdisziplinäre Arbeit in diesem Team so gut funktioniert.

Die Arbeit des Instituts für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin und Versorgungsforschung wird seit 2008 ermöglicht durch die institutionelle Förderung durch Südwestmetall, des Verbands der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg. Bei unserer Arbeit gibt es immer wieder Studien, für die die Anregung aus dem regelmäßigen Gedankenaustausch mit dem Verband oder einzelnen Firmen kommt oder bei denen wir eine Kooperation eingehen, aber: Wir sind in unserer wissenschaftlichen Arbeit und bei der Themenwahl völlig unabhängig, denn die Förderung basiert auf einem unrestricted grant. Da kann es schon einmal passieren, dass die Ergebnisse unserer Forschungsprojekte nicht zu politischen Forderungen aus dem Feld der Unternehmen passen.  Unsere aktuelle institutionelle Förderung ist noch bis 31 März 2028 gesichert, sie soll aber zukünftig auf eine noch breitere Basis gestellt werden.

Sprechen wir über das Programm zum 60. Geburtstag des Instituts…

Bereits am Dienstag, 9. September, beginnt die Jubiläumswoche mit der international größten wissenschaftlichen Fachtagung zur Prävention arbeitsbedingter Muskel-Skelett-Erkrankungen (PREMUS 2025), dazu kommen rund 250 Spezialisten aus der ganzen Welt nach Tübingen. 

Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) gehören weltweit zu den häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit. Sie werden auf der PREMUS-Tagung aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln, beispielsweise epidemiologisch oder aus der psychosozialen Perspektive betrachtet. Im Mittelpunkt stehen dabei die Aspekte Prävention, Diagnose und Behandlung, insbesondere die Rückkehr an den Arbeitsplatz nach einer entsprechenden Erkrankung. 

Am Donnerstag, 11. September, schließt sich unser Jubiläumssymposium „60 Jahre IASV – Gesunde Arbeit im Wandel“ an. Sie soll einen Ausblick geben, wie gesunde Arbeit in Zeiten von Digitalisierung, demografischem Wandel und neuen Belastungsformen zukünftig gestaltet werden kann und soll. Dazu werden innovative Präventionsansätze sowie ein neuer Risikoindex zur Bewertung von Steharbeit diskutiert. Ein Thema wird natürlich auch der Einsatz von Exoskeletten zur Entlastung des Rückens bei schweren Trage- und Hebetätigkeiten sein, denn hier in Tübingen forschen wir bereits seit langem dazu.

Besonders am Herzen liegt mir auch unser Bürger*innennachmittag unter dem Motto „Rücken, Gelenke & Co. – Wie bleibe ich bei der Arbeit gesund?“ Er bildet am Freitag, 12. September, den Abschluss des Jubiläums. Angeboten werden interaktive Mitmachstationen, z. B. Exoskelett-Demos und Bewegungsanalysen, Vorträge, aber auch Dialogrunden mit Forschenden, ganz im Sinne von Public Engagement. Ziel ist es, Wissen verständlich zu vermitteln und Anregungen für gesundheitsbewusste Arbeitsweisen zu geben. Im Vordergrund stehen die Fragen, wie wir auch bei körperlich fordernder Arbeit langfristig gesund bleiben können und welche neuen Lösungen Forschung bietet. Die Teilnahme ist kostenfrei, eine Anmeldung ist erforderlich.

Das Interview führte Maximilian von Platen

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