Uni-Tübingen

Natur am Limit

Wie viel Veränderung verkraften die Ökosysteme der Erde? Das Konzept der „Planetaren Grenzen“ definiert rote Linien – und schafft zugleich neuen Diskussionsbedarf, wie ein Ethik-Projekt zeigt.

Welchen Temperaturanstieg verkraften Pflanzen und Lebewesen? Ab wann sind Ozeane übersäuert und wie viel Wald darf abgeholzt werden? Die Frage, wie weit die Ökosysteme der Erde belastet werden können, bevor sie aus dem Gleichgewicht geraten, war 2009 Ausgangspunkt für das Konzept der „Planetaren Grenzen“.

Klima- und Umweltforschende entwarfen hier unter der Leitung des Wissenschaftlers Johan Rockström ein Zukunftsszenario globaler Umweltveränderungen. Für neun natürliche Systeme definierten sie „Belastbarkeitsgrenzen“ und nahmen unter anderem Entwicklungen wie den Klimawandel (gemessen an der CO2-Konzentration in der Atmosphäre), den Ozonabbau, die Veränderung von Landnutzung (gemessen am Anteil der Waldfläche), den Zustand unserer Gewässer oder den Rückgang biologischer Vielfalt in den Fokus.

Wenn die Menschheit weiterhin stabile Ökosysteme und eine lebenswerte Umgebung erhalten will, sollte sie diese Grenzen nicht überschreiten. „Man etablierte eine Art Alarmsystem“, sagt der Tübinger Ethiker Simon Meisch. Das Konzept der Planetary Boundaries wurde seitdem viel diskutiert. Unter anderem beeinflusste es die Diskussionen um die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Trotz dieser politischen Relevanz gibt es bislang kaum Literatur zu einer systematischen Auseinandersetzung mit den ethischen Fragen, die ein solches Konzept aufwirft, wie Jeremy Schmidt von der Queen Mary University of London berichtet. Gemeinsam mit Simon Meisch rief er daher das Projekt „Planetary
Ethics
“ ins Leben.

Dr. Simon Meisch ist Politikwissenschaftler und am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen tätig. Jeremy Schmidt war zu Beginn des Projekts außerplanmäßiger Professor für Geografie in Durham und lehrt heute Umweltgeografie in London. Für ihr Projekt führten die beiden Gespräche mit Forschenden aus den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften, Politikberatern und Kunstschaffenden weltweit.

Wer definiert die Grenzen?

Beim Gedanken an planetare Grenzen, denen wir uns unaufhörlich nähern – sechs gelten bereits als überschritten –,  drängen sich Fragen auf wie: Welche Anstrengungen muss die Menschheit aufbringen, um die Ziele einzuhalten? Wie geht es weiter, wenn sie gerissen werden? Doch aus Sicht der Studienleiter geht die Ethik einen Schritt weiter: Wie und von wem lassen sich solche Grenzen überhaupt sinnvoll definieren? Gelten sie global oder braucht es regionale Ausdifferenzierungen? Wer trägt am Ende Verantwortung für politisches Handeln?

Das Konzept wirke wie ein wissenschaftliches Modell, erklärt Meisch. „Es geht jedoch von normativen Annahmen aus, die es nicht transparent macht.“ So wird schon länger problematisiert, dass die planetaren Grenzen von einer kleinen Forschergruppe aus westlichen Industrieländern definiert wurden. Drücken Europa und die USA dem Rest der Welt ihre Vorstellungen aufs Auge?

Die Bedrohung beim Überschreiten der Belastbarkeitsgrenzen könne unterschiedlich wahrgenommen werden, so Schmidt. Planetary Boundaries bleibt hier naturgemäß allgemein und berücksichtigt keine Einzelinteressen. So gehe es beispielsweise beim Verlust biologischer Vielfalt oder dem Wandel der Landnutzung immer auch um konkrete Räume, die Menschen bewohnen und kultivieren, wie Simon Meisch erklärt.

Oft werde die Landwirtschaft als Problemquelle gesehen. Gleichzeitig sei sie Lebensgrundlage für große Teile der Menschheit. „Familien, die ihr Land über Generationen bewirtschaften, können diesem durchaus innig verbunden sein.“ Genauso könnten politische Maßnahmen, die das Überschreiten einer planetaren Grenze verhindern wollen, in problematischer Weise in die Lebensweisen indigener Völker eingreifen. „Gerade für den Schutz der Biodiversität sind indigene Völker von großer Bedeutung, weil sich viele Biodiversität-Hotspots auf ihren Territorien finden. Westliche, stark durch die Naturwissenschaften geprägte Konzepte von Biodiversität können im Spannungsverhältnis zu Vorstellungen stehen, wie indigene Völker ihre Beziehungen zu nichtmenschlichen Lebewesen verstehen und leben.“

Welche Konsequenzen ziehen wir?

Im Bereich der Biodiversität scheint die Abwägung fast unmöglich: Welche Spezies hat das Vorrecht auf einen Lebensraum? Müssen beispielsweise neu hinzugekommene invasive Arten eingebremst werden? Schmidt berichtet vom Gelände der Olympischen Spiele 2000 in Sydney, das auf einer Industriebrache errichtet wurde. Wegen hoher Schadstoffbelastung können viele Tiere dort nicht leben – bis auf eine Froschart, die so ihre Nische gefunden hat. Hat sie Vorrang oder gilt es, das Gelände zu renaturieren?

Selten gibt es die „eine Strategie“, um die Belastungsgrenzen zu meiden. Das Modell nennt keine Verursacher und kann nicht alle Aspekte ausformulieren. So fasst der Bereich „Novel Entities“ – neue Stoffe, die von der Menschheit in die Natur eingebracht werden – Unterschiedliches zusammen. „Damit können Atommüll, Mikroplastik oder Medikamentenrückstände gemeint sein“, sagt Meisch. „Für jede dieser Problematiken braucht es eigene Handlungsansätze.“

Selbst im einzigen Feld, das bislang als Erfolg gewertet wird, der Bekämpfung des Ozonlochs, sind die Bewertungen gemischt. Substanzen wie das FCKW wurden in einem internationalen Kraftakt eingedämmt. Andere schädliche Stoffe aber werden in den Regelungen nicht einmal erwähnt, so die Kritik.


In einer Welt, die immer stärker vernetzt ist, sollten Forderungen nach Gerechtigkeit so formuliert und begründet sein, dass sie alle Menschen in den Blick nehmen.


Eine „Ethik des Erdsystems“

Man sei bei allen Forschenden auf großen Gesprächsbedarf zum Thema gestoßen, sagt Meisch. „Sie sind sehr beunruhigt über die ökologischen Entwicklungen.“ Zugleich zeigte sich, dass es wichtig ist, die Debatte auszudifferenzieren, um überhaupt sinnvoll streiten zu können. Den anderen zuhören und akzeptieren, dass die Vorstellungen von „einem guten Leben“ weit auseinandergehen können, sei ein Anfang. „In einer Welt, die immer stärker vernetzt ist, sollten Forderungen nach Gerechtigkeit so formuliert und begründet sein, dass sie alle Menschen in den Blick nehmen.“

Jede der neun Planetaren Grenzen diskutierten die Wissenschaftler in Videokonferenzen. Die Dialoge dokumentierten sie in einem Buch, das bei Cambridge University Press erscheint, und führten sie in einem eigens entwickelten Podcast weiter. Am Ende soll Lehrmaterial für Schulen und Universitäten entstehen, das anregt, sich mit den aufgeworfenen Fragen zu beschäftigen. Ab 2025 wird es für möglichst viele Menschen kostenlos zugänglich sein.

Die Ergebnisse möchten die Projektleiter als Grundlage für eine „Ethik des Erdsystems“ anbieten: eine Sammlung ethischer Fragen, die sich bei Prozessen ergeben, die das gesamte Erdsystem betreffen, also eine planetare Dimension besitzen. Als Erfolg sehen sie bereits, dass sie mit den Gesprächen Raum anbieten konnten, um sich in die Debatte einzubringen. „Wir haben einen Reflexionsprozess angestoßen – das erweitert die Perspektive und führt vielleicht wiederum zu mehr Engagement.“

Was die Erde an ihre Grenzen bringt

Das Konzept der Planetaren Grenzen (Planetary Boundaries, PB) wurde von 28 Erdsystem- und Umweltforschenden entworfen, unter Leitung des schwedischen Wissenschaftlers und heutigen PIK-Direktors Johan Rockström. Das Team definierte neun ökologische Grenzen, die einen sicheren Handlungsraum für die Menschheit abstecken sollen. Das Überschreiten einer oder mehrerer Grenzen kann schädlich oder sogar katastrophal sein, weil es zu abrupten Umweltveränderungen der Erdsysteme kommt.

Im Jahr 2023 quantifizierten die Forscher den Status aller neun Prozesse und Systeme. Ihr ernüchterndes Ergebnis: Bereits sechs der neun Grenzen sind überschritten.

Text: Stephan Köhnlein


Weitere Meldungen

Überdosis unter Wasser

Fisch, Wasserfloh oder Schnecke: Medikamente  und Chemikalien im Wasser gefährden ihre Gesundheit. Biologin Rita Triebskorn setzt sich für einen besseren Schutz ein – und verschafft sich weltweit Gehör.

Stress im weiblichen Gehirn

Geschlechtshormone beeinflussen Stressreaktionen im Gehirn, bis hin zu psychischen Erkrankungen und deren Behandlung. Was Frauen betrifft, hat die Medizin hier Nachholbedarf: Viele Medikamente und Therapien orientieren sich am männlichen Standardmodell.