Uni-Tübingen

Nicht alles schrumpft im Alter

Schicht Nummer vier unserer Großhirnrinde wächst und wächst – mit erstaunlichen Folgen für unsere Wahrnehmung.

Kürzlich habe ich mich gefragt, ob ich mit zunehmendem Alter noch ein gesundes Gehirn habe. Ich bin Professorin an einer neurologischen Abteilung der Universität Tübingen. Dennoch fällt es mir schwer zu beurteilen, ob ein bestimmtes Gehirn, einschließlich meines eigenen, an einer frühen Neurodegeneration leidet, also einem fortschreitenden Verlust an Nervenzellen. Der Grund, warum es so schwierig ist, frühe Anzeichen der Neurodegeneration zu messen, liegt darin, dass es sehr kompliziert ist, kleine Strukturen in unserem Gehirn zu messen.

Moderne Neuroimaging-Technologien ermöglichen es uns, einen Hirntumor oder eine epileptische Läsion zu erkennen. Diese Anomalien sind mehrere Millimeter groß und können mit einem modernen Magnetresonanztomographen (MRT) dargestellt werden, der etwa 30.000–60.000 Mal stärker ist als das natürliche Magnetfeld der Erde. Das menschliche Denken und unsere Wahrnehmung aber finden auf einer kleineren Skala statt. Der äußere Teil unseres Gehirns, der Neocortex, besteht aus sechs Schichten. Wenn Sie eine Berührung an Ihrem Körper spüren, wird die vierte Schicht Ihres sensorischen Kortex aktiviert. Diese Schicht ist so dünn wie ein Sandkorn – viel kleiner als das, was MRTs in Krankenhäusern normalerweise darstellen können. Wenn Sie Ihre Körperwahrnehmung verändern, indem Sie beispielsweise versuchen, diesen Text zu lesen, anstatt den Schmerz Ihres verspannten Rückens zu spüren, werden die Schichten fünf und sechs Ihres sensorischen Kortex aktiviert. Diese beiden Schichten sind sogar noch kleiner als Schicht vier.

Für meine Studie hatte ich Zugang zu einem 7-Tesla-MRT-Scanner, der eine deutlich bessere Bildauflösung als Standard-MRT-Scanner bietet. Er macht Momentaufnahmen der feinmaschigen Netzwerke des Gehirns während der Wahrnehmung und des Denkens sichtbar. 

Mithilfe des 7-Tesla-Scanners untersuchte ich mit meinem Team in einer neuen Studie 1 den sensorischen Kortex bei gesunden jüngeren Erwachsenen (etwa 25 Jahre alt) und gesunden älteren Erwachsenen (etwa 65 Jahre alt), um das Altern des Gehirns besser zu verstehen. Wir stellten fest, dass nur die Schichten fünf und sechs Anzeichen einer altersbedingten Degeneration 2 aufwiesen. Diese Schichten schärfen eingehende Sinnes-Signale, ignorieren sie oder schwächen sie ab. Im Fachjargon sagen wir “modulieren” dazu. Die Schicht vier aber, die für das Spüren von Berührungen am Körper notwendig ist, war bei den gesunden älteren Erwachsenen in meiner Studie vergrößert. Wir führten auch eine Vergleichsstudie mit Mäusen durch. Bei den älteren Mäusen fanden wir ähnliche Ergebnisse, da auch sie eine ausgeprägtere Schicht vier hatten als die jüngeren Mäuse.

Allerdings zeigten die Ergebnisse unserer Studie an Mäusen, zu denen auch eine dritte Gruppe sehr alter Mäuse gehörte, dass dieser Teil des Gehirns im fortgeschrittenen Alter degenerieren kann. Aktuelle Theorien gehen davon aus, dass unser Gehirn mit zunehmendem Alter kleiner wird. 3 Die Ergebnisse meines Teams widersprechen diesen Theorie jedoch teilweise. Es ist der erste Hinweis darauf, dass bestimmte Teile des Gehirns bei normalen älteren Erwachsenen mit zunehmendem Alter größer werden. Ältere Erwachsene mit einer dickeren Schicht vier dürften empfindlicher auf Berührungen und Schmerzen reagieren und (aufgrund der reduzierten tiefen Schichten) Schwierigkeiten haben, solche Empfindungen zu modulieren.

Um diesen Effekt besser zu verstehen, haben wir einen Patienten mittleren Alters untersucht, der ohne einen Arm geboren wurde. Dieser Patient hatte eine dünnere
Schicht vier. Dies deutet darauf hin, dass sein Gehirn im Vergleich zu einer Person mit zwei Armen weniger Impulse erhielt und daher weniger Masse in Schicht vier entwickelte. Denn Teile des Gehirns, die häufiger genutzt werden, entwickeln mehr Synapsen und damit mehr Masse. Anstatt systematisch zu degenerieren, scheint das Gehirn älterer Erwachsener zumindest teilweise das zu bewahren, was sie nutzen. Die Alterung des Gehirns lässt sich mit einer komplexen Maschine vergleichen, in der einige häufig genutzte Teile gut geölt sind, während andere, weniger häufig genutzte Teile verrosten. Aus dieser Perspektive ist die Alterung des Gehirns individuell und wird durch unseren Lebensstil geprägt, einschließlich unserer Sinneserfahrungen, Lesegewohnheiten und kognitiven Herausforderungen, denen wir uns im Alltag stellen. Darüber hinaus zeigt sich, dass das Gehirn gesunder älterer Menschen seine Fähigkeit bewahrt, die Umgebung sensorisch wahrzunehmen.


Ältere Erwachsene mit einer dickeren Schicht vier könnten für nachlassende Empfindsamkeit der Haut kompensieren.


Es gibt noch einen weiteren interessanten Aspekt: Das Muster der Gehirnveränderungen, das wir bei älteren Erwachsenen festgestellt haben – eine stärkere sensorische Verarbeitungsregion und eine reduzierte modulatorische Region –, weist Ähnlichkeiten mit neurodivergenten Störungen wie Autismus oder ADHS auf.
Neurodivergente Störungen sind durch erhöhte sensorische Empfindlichkeit und verminderte Filterfähigkeit gekennzeichnet, was zu Problemen bei der Konzentration und kognitiven Flexibilität führt. Deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass das Altern das Gehirn in Richtung neurodivergenter Störungen verändert? Das Gehirn älterer Erwachsener wurde durch lebenslange Erfahrungen geprägt, während neurodivergente Menschen mit diesen Gehirnmustern geboren werden oder sie während einer frühen Lebensphase entwickeln können. Daher ist es schwer zu sagen, welche weiteren Auswirkungen das veränderte Verhältnis zwischen Signalwahrnehmung und Signalmodulation mit zunehmendem Alter haben könnte.

Unsere Ergebnisse geben uns jedoch einige Hinweise darauf, warum ältere Erwachsene manchmal Schwierigkeiten haben, sich an eine Umgebung mit neuen Sinnesreizen anzupassen. In solchen Situationen, beispielsweise wenn sie mit einem neuen technischen Gerät konfrontiert werden oder eine neue Stadt besuchen, kann die verminderte Filter- und Modulationsfähigkeit der Schichten fünf und sechs besonders deutlich werden und die Wahrscheinlichkeit von Desorientierung oder Verwirrung erhöhen. Dies könnte auch die mit dem Alter abnehmende Fähigkeit zum Multitasking erklären, beispielsweise beim gleichzeitigen Gehen und Telefonieren mit dem Handy.


Mit dem Alter nimmt die Fähigkeit zum Multitasking ab.


Sowohl die mittleren als auch die tiefen Schichten wiesen bei älteren Mäusen und Menschen mehr Myelin auf, ein Stoff, der für die Nervenfunktion und -kommunikation entscheidend ist. Dies deutet darauf hin, dass im Alter von 65 Jahren ein Mechanismus den Verlust der Modulationsfunktion ausgleicht. Bei sehr alten Mäusen schien dieser Effekt wieder nachzulassen. Unsere Studie belegt den Einfluss des individuellen Lebensstils auf die Entwicklung des alternden Gehirns. Und wie wichtig die Leistungsfähigkeit moderner MRT-Scanner für das Verständnis der Gehirngesundheit ist.

Esther Kühn von der Universität Tübingen erforscht am Hertie Institut für klinische Hirnforschung, wie Veränderungen im Gehirn unsere Gesundheit beeinflussen.

Dazu verwendet sie MRTs und andere bildgebende Verfahren. Sie gehört auch dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) an.


1 Esther Kühn et al.: „Layer- specific changes in sensory cortex across the lifespan in mice and humans”, Nature Neuroscience, 2025, 11 August, https://doi.org/10.1038/s41593-025-02013-1 

2 Charles Lee, Murray Sherman: “Modulator property of the intrinsic cortical projection from layer 6 to layer 4”, Frontiers in Systems Neuroscience, 2009, Feb 26:3:3, https://doi.org/10.3389/neuro.06.003.2009 

3 Ethan MacDonald, Bruce Pike: “MRI of healthy brain aging: A review”, NMR in Biomedicine, 6 June 2021, https://doi.org/10.1002/nbm.4564 

Text: Esther Kühn


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