Die Juristische Fakultät der Universität Tübingen bietet künftig ein neuartiges studienbegleitendes Zusatzprogramm an: Das Wahlfach „Recht – Ethik – Wirtschaft“ vermittelt angehenden Juristen die Fähigkeit zu ethischer Reflexion und kann ergänzend zum Grundstudium als Zusatzqualifikation belegt werden. Gemeinsam mit dem Weltethos–Institut, dem Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW), der Evangelisch–Theologischen Fakultät und der Katholisch–Theologischen Fakultät werden unter anderem Fallstudien und Workshops aus den Bereichen „Märkte“, „Public und Private Governance“ oder „Geld und Verteilungsgerechtigkeit“ angeboten.
„Studienanfänger lernen beispielsweise im Strafrecht, was im Strafgesetzbuch steht, aber erfahren zu wenig über komplexe Grundfragen, wie zum Beispiel das Verhältnis von Meinungsäußerung und Gewalt in einer pluralistischen Gesellschaft oder von unternehmerischem Gewinnstreben und Menschenrechten“, sagt Professor Dr. Christian Seiler, Dekan der Juristischen Fakultät. „Schlichte Gesetzeskenntnis bedeutet noch nicht, auch die gesellschaftliche Relevanz des Rechts verstanden zu haben.“ Recht lebe von ethischen Voraussetzungen, die es selber nicht garantieren könne. Gerade das sollten aber junge Juristen von Beginn an lernen.
Anhand jeweils aktueller Fälle sollen Studierende die Kompetenz entwickeln, gesellschaftliche Konflikte zu analysieren, gegenläufige Interessen abzuwägen und ethisch sowie rechtlich zu bewerten. Was gilt zum Beispiel, wenn Demonstranten bei einer Großdemonstration gegen die Eröffnung des neuen Sitzes der Europäischen Zentralbank eine Sitzblockade durchführen und polizeiliche Anweisungen missachten oder Straßenbahnen demolieren? Gibt es ein die Rechtsordnung überwindendes Recht auf zivilen Ungehorsam und wie weit könnte es reichen?
Ein weiteres Beispiel: Ein internationaler Bekleidungskonzern lässt Waren in Bangladesch produzieren. Die dortigen Mitarbeiter erleiden wegen schlechter Produktionsbedingungen Gesundheitsschäden. Der Hersteller beruft sich darauf, kein geltendes Recht zu verletzen. Der internationale Wettbewerb sei hart, und man sei für das Arbeitsrecht in Entwicklungsländern nicht zuständig. Ist diese Position legitim? Wie könnte und sollte die Rechtsordnung reagieren?
„Wer in Tübingen Jura studiert hat, kann und soll Erfolg im Berufsleben haben, aber nicht als bloßer Formaljurist, sondern als Verantwortungsträger, der sich der ethischen Bedingtheit seines Handelns bewusst ist“, sagt Seiler. In diesem Sinne solle ein Jurastudium auch die Kompetenz vermitteln, eine eigene Haltung in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen Konfliktsituationen zu entwickeln und zu begründen. Gesucht würden nicht „richtige“ Lösungen wie in der juristischen Klausur, sondern gefordert werde Einsichtsfähigkeit in die Komplexität politisch–gesellschaftlicher Konfliktlösungen. Ohne diese Fähigkeiten helfe auch beste Rechtskenntnis nichts, ganz nach Georg Christoph Lichtenberg: „Wer nur das Recht versteht, versteht auch das nicht recht“.
Das Studienprogramm findet an der Universität Tübingen mit den bestehenden Arbeitsschwerpunkten des Weltethos–Instituts, des IZEW, der Evangelisch–Theologischen Fakultät und der Katholisch–Theologischen Fakultät beste Voraussetzungen. Es soll bereits herausragende Studienanfänger ansprechen ‒ ein Angebot, das in dieser Form bisher einzigartig sein dürfte. Lehrform wird bewusst nicht die klassische Vorlesung, sondern eine Kombination aus Seminaren, Kolloquien und Case Studies sein. Unter den Lehrenden werden nicht nur Juristen, sondern unter anderem auch ausgewiesene Wirtschaftsethiker sein. Diese Interdisziplinarität gilt aber auch für die Studierenden. Das Programm steht auch Teilnehmern der theologischen Fakultäten offen und kann künftig auf andere Fachbereiche ausgeweitet werden, etwa Politikwissenschaftler oder Ökonomen.
Studienprogramm unter www.jura.uni-tuebingen.de/studium/rew und www.mehr-als-nur-recht.de
Prof. Dr. Stefan Thomas
Prodekan der Juristischen Fakultät
thomas[at]jura.uni–tuebingen.de