Kunst an der Universität Tübingen
Ein vom Museum der Universität Tübingen MUT veröffentlichter Band gibt erstmals einen umfassenden Überblick
Das Museum der Universität Tübingen MUT hat einen 520 Seiten umfassenden Band zu Kunst an der Universität herausgebracht. Professor Dr. Ernst Seidl, Direktor des MUT und einer der Herausgeber der Publikation, berichtet im Interview über das Projekt, das knapp fünf Jahre gedauert hat und an dem auch Studierende des Masterprofils „Museum & Sammlungen“ mitgewirkt haben.
Herr Professor Seidl, wie viele – bekannte – Kunstwerke gibt es insgesamt an der Universität Tübingen? Wie viele davon haben Sie in die Publikation aufgenommen?
Es gibt an der Universität Hunderte, ja Tausende Kunstwerke – mehr lässt sich kaum sagen. Deshalb mussten wir uns für den erschienenen Band notgedrungen auf im weiteren Sinn immobile Kunstwerke beschränken, insgesamt rund 150 Exponate. Aber wo beginnt die Definition dessen, was ein Kunstwerk überhaupt ist? Denken Sie zum Beispiel an Graffiti und Harald Naegelis ephemere Werke, an rein ornamentale Bauskulptur oder auch an subversive Interventionen im öffentlichen Raum der Universität. Dazu gibt es einen Beitrag im Buch, der versucht, die Kategorien dessen, was gemeint oder nicht gemeint ist, zu differenzieren. Und schon mobile Kunstwerke, also sagen wir schlicht „Bilder an der Wand“, haben wir gar nicht mit aufgenommen. Das wäre uferlos gewesen. Zudem: Der Begriff „Kunst am Bau“ meint zwar allgemein immobile Objekte – allerdings im engeren Sinn auch das Förderformat der öffentlichen Hand – tatsächlich sind aber viele immobile Werke an der Universität gar nicht durch dieses Programm entstanden.
Gehen wir noch ein bisschen tiefer ein auf die Begrifflichkeit und das, was Kunst am Bau ausmacht…
Genauso, wie man sich heute immer schwerer tut, Kunst zu definieren, so bin ich auch mit meinen Kolleginnen und Kollegen der AG „Kunst am Bau“ der bundesweiten Gesellschaft für Universitätssammlungen (GfU) im Gespräch darüber, wie wir immobile Kunstwerke an öffentlichen Bauten überhaupt benennen wollen. Denn „Kunst am Bau“ würde es schon gut treffen. Aber es würde zu einer allzu starken Engführung auf das gleichnamige staatliche Förderprogramm führen, das es im Kern bereits seit Ende des Ersten Weltkriegs gab und das die prekäre ökonomische Situation der bildenden Künstlerinnen und Künstler mildern sollte. Mit dem Begriff „Kunst an der Universität“ würden sich umgekehrt dann auch alle mobilen, transportablen Bildwerke verbinden, was auch nicht gemeint ist. Daher sind alle Umschreibungen nur Hilfskonstruktionen. Wir haben uns bei den Objekten auf weitgehend immobile Werke geeinigt – deren definitorische Ränder stark ausfransen. Es ist ein Spezifikum von Kunst, dass sie innovativ sein muss und daher immer wieder aufs Neue die Grenzen des Vorgegebenen verlässt.
Warum gibt es Kunst am Bau, welche Funktion hat sie?
Es geht vor allem um die Qualität und Aufwertung von Innen- und Außenräumen öffentlicher Einrichtungen. Es geht aber auch um die Schaffung individueller, wiedererkennbarer und auch besonderer Umgebungen für alle Nutzerinnen und Nutzer. Und es geht um Repräsentation, Profilbildung, Identitätsstiftung. Nebenbei werden dadurch bildende Künstlerinnen und Künstler unterstützt – aber das dürfte kaum der alleinige Beweggrund gewesen sein, viel Geld für Kunst am Bau vorzusehen.
Wie haben Sie die Vielzahl an Kunstwerken für den Band auffinden können, welche Materialien und Personen haben Ihnen dabei geholfen, welche Schwierigkeiten gab es?
Das war ein langer Prozess – und ohne die Unterstützung des Amtes für Vermögen und Bau mit ihren Bestandslisten zu „Kunst am Bau“ und ohne das Universitätsarchiv wäre das kaum zu bewältigen gewesen. Das war aber nur ein Teil. Der andere Teil des Projekts bestand in der detektivischen Arbeit meiner Kollegen Edgar Bierende und Michael La Corte – und nicht zuletzt der Studierenden des Masterprofils „Museum & Sammlungen“. Sie haben in einem zweisemestrigen Praxisseminar in den Jahren 2019 und 2020 diese Publikation mit konzipiert, Daten zu einzelnen Werken recherchiert und diese schließlich in Kurztexten zusammengefasst. Das Format der Praxisseminare erlaubt es uns immer wieder, unsere Aufgaben am Museum der Universität Tübingen (MUT) im Kontext von Lehrveranstaltungen mit vielen interessierten Studierenden zu verfolgen. Es ist ein Glücksfall, die Pflege und Publikation unseres riesigen kulturellen Erbes mit der universitären Lehre und Forschung verbinden zu können.
Kunst an der Universität Tübingen: Welche Besonderheiten gibt es hier?
Da ist zu allererst das Alter der Kunst. Wo kann man hier überhaupt beginnen – es gibt ja hier in Tübingen keine Kriegsschäden: gehören zum Beispiel die Epitaphien der Lehrenden und Studierenden in der Stiftskirche oder die geschnitzten Attempto-Palmen an den hölzernen Kapitellen in der Alten Burse aus dem Jahr 1478 ebenso dazu wie die über die Stromleitungen geworfenen, miteinander verknoteten Turnschuhpaare [beispielsweise in der Wilhelmstraße]? Es spiegelt sich gerade in dieser Entwicklung und lückenlosen Reihe ein seltenes historisches Panorama, das phantastische, zum Teil verrückte, aber auch versteckte und zur Wiederentdeckung einladende Fälle von Kunst bereithält.
Die Neue Aula taucht im Band gleich mehrfach auf…
Die Neue Aula taucht sehr oft auf – nicht nur in mehreren längeren Aufsätzen, sondern auch in Beiträgen zu zahlreichen Einzelobjekten. Allerdings ohne die neoklassizistischen Mäander-Ornamente an der Decke des Festsaales. Wir haben für uns entschieden, reine non-figurative Bauskulptur außer Acht zu lassen, sonst hätten wir die Dekorationen sehr vieler Bauten mit aufnehmen müssen. Das hätte den Rahmen endgültig gesprengt – wir kamen ohnehin auf 520 Seiten, das verleitet nicht gerade dazu, das Buch auf einer Entdeckungstour durch das Universitätsgelände unter den Arm zu klemmen.
Welches sind Ihre persönlichen Highlights, die vielleicht nicht so bekannt sind?
Das ist schwer zu sagen. Vielleicht die extrem synkretistischen und teilweise sehr rätselhaften Stuckarbeiten in der Neuen Aula; das Epitaph für Martin Plantsch in seiner unglaublich ruinösen Umgebung; die Brunnenfiguren von Fritz von Graevenitz in den Treppenhäusern der Neuen Aula – von denen leider eine gestohlen wurde; die zahlreichen Brunnen, die bedauerlicherweise häufig nicht mehr in Funktion sind. Oder auch das sogenannte „Parlatorium“ von Georg Karl Pfahler im Brechtbau von 1973, das ein wenig an die bunten, organischen Innenräume des dänischen Architekten und Designers Verner Panton erinnert.
Warum wurde dieses Projekt gerade jetzt realisiert?
Wir sind grundsätzlich ständig auf der Suche nach Themen für Praxisseminare. Dazu gehören übergeordnete Ausstellungsthemen genauso wie Outreach-Themen einzelner Forschungsprojekte, die als Kooperationen an uns herangetragen werden. Daneben gibt es eben auch große Themen im Kontext unseres Erbes oder thematische Lücken, die ja gerade in Tübingen auch mit Studierenden hervorragend bearbeitet werden können. Hier bietet das erwähnte Masterprofil „Museum & Sammlungen“ (MuSa) den idealen curricularen Rahmen.
Es ist unglaublich, dass es zu den zahlreichen Kunstwerken, die uns an der Universität – und auch an den vielen Kliniken – täglich begegnen, bislang kein Vademecum gab. Auch zur langen Architekturgeschichte der Universität Tübingen gibt es bislang nichts Vergleichbares, aber wir sind dran: Zum Universitätsjubiläum im Jahr 2027 hoffen wir, auch zu diesem Thema eine Publikation vorlegen zu können…
Das Interview führte Maximilian von Platen
Interview im Newsletter 2/2024