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20.04.2022

Der innere Kompass: eine modulare Karte im Gehirn

Neurowissenschaftliches Team der Universität Tübingen entdeckt grundlegende anatomische Organisationsprinzipien der neuronalen Schaltkreise des Hirnbereichs der Maus, der die Bewegungsrichtung im Raum abbildet

Kompass und Karte: Wie sie bei der Orientierung im Gehirn abgebildet werden, wirft noch zahlreiche Forschungsfragen auf.

Bei der räumlichen Orientierung spielen äußere Landmarken wie ein Kirchturm oder ein gelbes Haus an der Ecke eine Rolle, aber auch ein innerer Kompass, den spezialisierte Nervenzellen im Gehirn bilden. Diese Kopfrichtungszellen, die auf die Blickrichtung reagieren, geben noch viele Rätsel auf. Nun hat ein Forschungsteam der Universität Tübingen herausgefunden, wo diese Zellen genau sitzen, wie sie mit anderen Bereichen des Gehirns verschaltet sind und welche Mechanismen ihre Aktivität unterstützen. Möglicherweise hat es den Ort im Gehirn entdeckt, wo die Informationen des inneren Kompasses mit denen aus den äußeren Landmarken zusammenlaufen. Geleitet wurde das internationale Forschungsteam von Dr. Patricia Preston-Ferrer vom Institut für Neurobiologie und dem Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN). Die Studie, die in Kooperation mit dem Shenzhen Institute of Advanced Technology entstand, wurde in der Fachzeitschrift Cell Reports veröffentlicht.

„Die Kopfrichtungszellen wurden schon vor mehr als 30 Jahren im Gehirn von Nagetieren entdeckt. Sie verfolgen die Bewegung des Tiers im Raum, so entsteht dort sozusagen eine Abbildung des inneren Kompasses“, erklärt Patricia Preston-Ferrer. „Wenn man verstehen will, wie Nervenzellen im Gehirn arbeiten, muss man sie zunächst sichtbar machen“, setzt sie hinzu. Um die Informationsverarbeitung im Gehirn – die Software – zu verstehen, müsse man die zugrundeliegenden Verschaltungen im Gehirn – die Hardware – kennen. Das Forschungsteam machte die Kopfrichtungszellen und die Verschaltung der Nervenzellen untereinander durch einen experimentellen Ansatz unter dem Mikroskop sichtbar. Diese Methode hatte es bereits 2016 entwickelt. 

Entsprechende Strukturen im menschlichen Gehirn

Die Kopfrichtungszellen sitzen im sogenannten Presubiculum, einem speziellen Bereich des Kortex, wie die Hirnrinde auch genannt wird. „Wir waren sehr überrascht, dass das Presubiculum der Maus nicht homogen erscheint, sondern ganz klar in Module aufgeteilt ist“, sagt CIN-Forscher Giuseppe Balsamo. „Wir haben zwei verschiedene Typen gefunden, die sich molekular unterscheiden ließen und die auf unterschiedliche Weise mit anderen Gehirnbereichen verbunden waren.“ Diese Module entdeckte das Team nicht nur im Gehirn von Nagetieren, sondern entsprechende Strukturen auch im menschlichen Gehirn.

Bei der Markierung individueller Kopfrichtungszellen machte das Forschungsteam zwei Beobachtungen: Zum einen fanden sie diese nur in einem Modultyp, was auf eine genaue Organisation von Struktur und Funktion im presubicularen Kortex schließen lässt; zum zweiten wird dieser Modultyp von zahlreichen Nervenendigungen aus einem bestimmten Kern des Hirnbereichs Thalamus innerviert, der bekannterweise an der Verarbeitung von Landmarkeninformationen beteiligt ist. „Wir wissen, dass eine effektive Navigation auf einem inneren Kompass beruht in Verbindung mit visuellen Informationen aus Landmarken“, sagt Professor Andrea Burgalossi, Leiter einer Forschungsgruppe am CIN. „Möglicherweise haben wir den Ort im Gehirn gefunden, an dem der innere Richtungssinn mit den visuellen Informationen für die Navigation zusammengeführt wird.“

Künstliche Abschaltung

Wenn das Team in die Aktivität der modularen Mikroverschaltungen im Presubiculum künstlich eingriff, verstummten die meisten Kopfrichtungszellen. „Es scheint, als könnten wir durch solche Manipulationen den inneren Kompass abstellen“, sagt Dr. Eduardo Blanco-Hernandez. Doch sei ein kleiner Anteil der Zellen aktiv geblieben. „Wir wissen noch nicht, ob die ausgeschalteten und die dauerhaft aktiven Kopfrichtungszellen verschiedene Funktionen haben; doch ist klar, dass der innere Kompass komplexer gebaut ist als gedacht.“

„Wir haben Einblick in grundlegende Organisationsprinzipien der Hirnrinde erhalten“, sagt Preston-Ferrer. Ein modularer Aufbau sei auch in anderen Bereichen des Kortex zu beobachten. Der Kortex ist eine dünne Schicht aus Nervengewebe auf der Oberfläche des Gehirns, die in erster Linie für höhere kognitive Funktionen verantwortlich ist. Das Forschungsteam konnte den Bereich der inneren Abbildung des Richtungssinns auf dem Kortex im Mausgehirn lokalisieren. „Nun ist es wichtig zu verstehen, wann und wie sich die presubicularen kortikalen Module in der Entwicklung herausbilden“, sagt Burgalossi. „Interessant wäre auch, ob der Bereich bei neurodegenerativen Erkrankungen wie der Alzheimer-Krankheit gestört ist. Denn Probleme mit dem inneren Richtungssinn gehören dabei häufig zu den frühesten Symptomen.“

Publikation:

Giuseppe Balsamo, Eduardo Blanco-Hernández, Feng Liang, Robert Konrad Naumann, Stefano Coletta, Andrea Burgalossi and Patricia Preston-Ferrer: Modular microcircuit organization of the pre-subicular head-direction map. Cell Reports 39, 110684 April 12. doi.org/10.1016/j.celrep.2022.110684

Kontakt:

Universität Tübingen
Institut für Neurobiologie
Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)

Dr. Patricia Preston-Ferrer
 +49 7071 29-88797
patricia.prestonspam prevention@cin.uni-tuebingen.de  

Professor Dr. Andrea Burgalossi
andrea.burgalossispam prevention@cin.uni-tuebingen.de 

Pressekontakt:

Eberhard Karls Universität Tübingen
Hochschulkommunikation
Dr. Karl Guido Rijkhoek
Leitung

Janna Eberhardt
Forschungsredakteurin
Telefon +49 7071 29-77853
 Telefax +49 7071 29-5566
janna.eberhardtspam prevention@uni-tuebingen.de

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