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12.11.2020

Fragwürdige Absprachen vor Gericht

Tübinger Kriminologen beteiligt: Bundesweite Studie untersucht Verständigungspraxis in deutschen Strafprozessen

Geständnis gegen Strafmilderung: Absprachen dieser Art kürzen Gerichtsprozesse oft ab. Nicht immer halten sich die Beteiligten dabei an den gesetzlichen Rahmen, wie eine bundesweite Studie zeigt. Im Auftrag des Bundesjustizministeriums hatte ein Forschungsprojekt der Universitäten Tübingen, Düsseldorf und Frankfurt am Main zwei Jahre lang untersucht, wie „Verständigungen“ im deutschen Gerichtsalltag ablaufen. Ein Team um Professor Jörg Kinzig vom Tübinger Institut für Kriminologie befragte dabei mehr als 1.500 Strafrichter, Staatsanwälte und Strafverteidiger zu ihren Erfahrungen. Die Ergebnisse wurden im Open Access unter www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783748922094  veröffentlicht.

Verständigungen in Strafverfahren sind seit mehr als 30 Jahren Teil des gerichtlichen Alltags und unterliegen seit 2009 festen gesetzlichen Regeln: So muss eine solche Übereinkunft der Transparenz wegen dokumentiert werden. Geständnisse sind zwingend zu überprüfen. Auch darf das genaue Strafmaß nicht von vorneherein feststehen, möglich ist vorab nur die Festlegung eines „Korridors“, in dem die Strafe liegen soll.

Die Befragung der 1.500 Fachleute ergab nun, dass gegen die gesetzlichen Vorgaben häufig verstoßen wird: Rund 58 Prozent der Befragten gaben an, dass allen Beteiligten bereits mit der Verständigung klar sei, welche Strafe am Ende der Verhandlung stehen werde. Dabei vermuteten die Befragten, dass ein Geständnis und ein somit abgekürztes Verfahren mit einem Strafrabatt von rund 20 Prozent für die Angeklagten honoriert werde.

Darüber hinaus förderte die Befragung zutage, dass auch die sogenannten „informellen Absprachen“, also solche außerhalb der Vorgaben der Strafprozessordnung, weiter praktiziert werden. Nicht einmal die Hälfte aller Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger gab an, auf derartige „Deals“ in der eigenen Praxis vollständig zu verzichten. Entsprechende Praktiken werden vor allem bei Betrugsdelikten (29 Prozent), Wirtschaftsstrafsachen (27 Prozent), Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz (22 Prozent) und Steuerstrafsachen (20 Prozent) genutzt. Häufig oder sogar sehr häufig wird eine solche Vorgehensweise bei Strafrichter (35 Prozent) und Schöffengericht (27 Prozent) an Amtsgerichten vermutet, eher weniger dagegen am Schwurgericht bei Landgerichten (nur 1 Prozent).

Kinzig sieht in den Ergebnissen einen Beleg dafür, dass die derzeitige Regelung nur bedingt praxistauglich und daher reformbedürftig ist: „Der Gesetzgeber sollte sich nun genau anschauen, an welchen Stellen und aus welchen Motiven die am Strafprozess Beteiligten den normativen Vorgaben die Gefolgschaft verweigern. Wenn vor allem an Amtsgerichten ‚gedealt‘ wird, ist das auch ein Hinweis darauf, dass es an den nötigen personellen Ressourcen fehlt.“

Das Bundesjustizministerium will auf Grundlage der Ergebnisse prüfen, ob weitere gesetzliche Vorgaben nötig sind, um Verständigungsverfahren besser zu regeln. (Stellungnahme unter: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Artikel/DE/2020/110420_Evaluation_Verstaendigung.html)

Publikation: 

Karsten Altenhain, Matthias Jahn, Jörg Kinzig: Die Praxis der Verständigung im Strafprozess. Eine Evaluation der Vorschriften des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009, 1. Auflage 2020, ISBN print: 978-3-8487-7805-8, ISBN online: 978-3-7489-2209-4, https://doi.org/10.5771/9783748922094 

Kontakt:

Prof. Jörg Kinzig
Universität Tübingen
Institut für Kriminologie
 Telefon: +49 7071 29-72549
kinzigspam prevention@jura.uni-tuebingen.de 

Pressekontakt:

Eberhard Karls Universität Tübingen
Hochschulkommunikation
Dr. Karl Guido Rijkhoek
Leitung

Antje Karbe
Pressereferentin
 Telefon +49 7071 29-76789
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